Wenn allgemein das Jahr 1717 als Gründungdatum für die moderne spekulative Freimaurerei angesehen wird, so erlebt Österreich genau 25 Jahre nach der Gründung der ersten englischen Großloge das Entstehen einer eigenen maurerischen Organisation. Der Ehemann Maria Theresias, Franz Stephan von Lothringen, gilt als Spiritus Rector der ersten Wiener Loge Aux trois Canons, die ihr Gründungspatent über Breslau erhielt. Zwar wird sie schon nach sechs Monaten auf Befehl Maria Theresias ausgehoben, doch gibt es in den folgenden Jahrzehnten auf habsburgischem Gebiet immer wieder Logengründungen.
Maria Theresias Sohn Joseph II. lehnt zwar selbst eine Aufnahme in den Bund ab, seine Anweisung, dass alle Orden, also auch die Freimaurerei, keine ausländischen Oberen anerkennen und Geldabgaben ins Ausland leisten dürfen, führt jedoch zur Gründung der ersten Großloge auf Wiener Boden: der Großen Landesloge von Österreich mit sechs Provinziallogen: Österreich, Böhmen, Lombardei, Galizien, Siebenbürgen und Ungarn.
Im Goldenen Zeitalter der Aufklärung werden medizinischer Fortschritt, die Abschaffung der Folter, die Gründung des Allgemeinen Krankenhauses in Wien, eine Agrarreform, der Ausbau eines allgemeinen Schul- und Verwaltungswesens von Menschen betrieben, die sich den Idealen der Anderson’schen Prinzipien verschrieben haben. In Österreich steht ein Name ganz besonders für dieses Goldene Zeitalter der Freimaurerei: Wolfgang Amadeus Mozart, der übrigens in der ‚Zauberflöte‘ seinem Meister vom Stuhl Ignaz von Born ein bemerkenswertes Denkmal gesetzt hat.
1785 wird die Anzahl der Logen stark eingeschränkt. In Wien reduziert sich das Logenleben auf zwei Logen mit maximal 300 Brüdern, und 1795 wird die Freimaurerei in der gesamten Monarchie verboten.
Erst 1867, im Österreichisch-Ungarischen Ausgleich, kommt wieder Bewegung in die freimaurerische Szene. In Österreich (Cisleithanien) verlangt das neue Vereinsgesetz die Teilnahme staatlicher Kommissäre bei den Vereinssitzungen, ein für rituelle Arbeiten undenkbarer Zustand, in Ungarn (Transleithanien) ist dies jedoch nicht der Fall. 1869 entsteht daraufhin die erste deutschsprachige Loge in Ödenburg (Sopron), weitere sog. Grenzlogen folgen. Die rituelle Arbeit wird in Ungarn abgehalten, der unpolitisch-humanitäre Verein besteht in Wien. Die letzte derartige Loge entsteht 1917. Alle diese Logen arbeiten unter dem Schutz der Symbolischen Großloge von Ungarn.
1918, nur drei Wochen nach dem Ende des 1. Weltkrieges und der Ausrufung der Republik, lebt die Freimaurerei wieder offiziell auf. So wird am 25. Jänner 1919 von der Symbolischen Großloge von Ungarn das Licht in die Großloge von Wien eingebracht. Wieder werden soziale Einrichtungen gefördert. Die für Österreich bis heute typische Sozialpartnerschaft kann als ein Ergebnis des profanen Wirkens von Brüdern angesehen werden.
1938 werden die Logenräume in Wien von den Nationalsozialisten besetzt, die materiellen Güter beschlagnahmt, Freimaurer jeglicher Provenienz verfolgt. Das Licht verschwindet bis 1945.
Nach dem 2. Weltkrieg wird die Freimaurerei in Wien wiederbelebt. Von den 2.000 Brüdern der Vorkriegszeit sind nur 67 übrig geblieben. Die anderen sind verschleppt oder ermordet worden, in Gefangenschaft geraten, gestorben oder emigriert. Die Logenräume sind verwüstet. Wien ist eine geteilte Stadt. Unter den Amerikanern, Briten und Franzosen, die als Besatzungssoldaten in Wien sind, gibt es auch viele Brüder, die besondere Hilfe leisten. Mit großem organisatorischen und materiellen Einsatz wird die Großloge von Wien für Österreich wieder aufgebaut, auch in den Bundesländern beginnen wieder Logen zu arbeiten. Alle stehen sie in der Bruderkette, bis Anfang der 50er Jahre.
Die Vereinigte Großloge von England verlangt von der Großloge von Wien für Österreich als Preis für die Anerkennung u.a. das Ende jeglicher Beziehungen zu sogenannten ‚irregulären‘ Brüdern, so auch z.B. zu solchen, die dem Großorient von Frankreich angehören.
Der damalige Großmeister beugt sich der ultimativen Forderung aus London, und im Herbst 1952 erfolgt die formelle Anerkennung.
Doch eine Gruppe vorwiegend jüngerer Brüder will diesen anbefohlenen Kurswechsel zum Dogmatismus nicht mittragen. Ab Herbst 1953 arbeiten sie ‚unter freiem Himmel‘ und beginnen, eine für Österreich neuartige Form der freimaurerischen Arbeit zu entwickeln. Am 24. September 1955 wird die Unabhängige Freimaurer Loge Wien (UFML) gegründet, die 1961 eine der Gründungslogen der internationalen Vereinigung der liberalen Freimaurer CLIPSAS ist. CLIPSAS (Centre de Liaison et d’Information des Puissances maçonniques Signataires de l’Appel de Strasbourg) ist ein freiwilliger Zusammenschluss von Obödienzen im Sinne einer ideellen Dachorganisation mit Mitgliedern in aller Welt.
Zu den Grundsätzen der UFML gehört von Anfang an ein Verständnis von Freimaurerei, das auch auf die alten gesellschaftspolitischen Wirkungsmöglichkeiten zurückgreifen will. Zu den Alten Pflichten sollen Neue Pflichten als Ergänzung hinzukommen.
Ein solches Dokument wird 1974 verfasst und gilt bis heute, mit wachsender internationaler Anerkennung.
Dieser Text der UFML ist in seinem Grundverständnis ein Versuch, die alte Flamme der Aufklärung, das Licht der Vernunft in einer Welt der Widersprüche, der Inhumanität und der Gleichgültigkeit, wieder stärker zum Leuchten zu bringen.
Innerhalb der Männerloge UFML wird jahrelang diskutiert, ob sie die liberalen Grundsätze etwa gegenüber der Aufnahme von Frauen nicht auch selbst in die Tat umsetzen sollte, damit aus dem Brüderbund ein ganzheitlicher Menschenbund werde. Im Jahr 1985 erfolgt im Zusammenhang mit der Neugründung der Logen Zu den Neuen Pflichten und Gotthold Ephraim die neuerliche Aktivierung des bereits 1961 ins Leben gerufenen Großorients von Österreich und wenige Monate später die Aufnahme der ersten Frauen in die beiden neu gegründeten Logen. Die Traditionsloge UFML bleibt bis März 2004 eine Männerloge, jedoch mit Besuchsrecht für Schwestern.
In diesem wiedererweckten Großorient verläuft die Entwicklung zunächst sehr positiv. Neue Logengründungen (Zu den 3 Spiegeln, Sapientia Cordis, Zur Königlichen Kunst) und Neuaufnahmen (H.I.R.A.M., New Isis) und die Erweiterung der internationalen Zusammenarbeit zeigen ein florierendes Maurerleben. Interne Zerwürfnisse führen jedoch im Sommer 2003 dazu, dass die drei Gründungslogen den Großorient von Österreich verlassen. Sie arbeiten in enger Kooperation in den traditionellen Räumen weiter, und mit Wirkung vom Johannistag, dem 24. Juni 2007, wird das Licht in der Liberalen Großloge von Österreich entzündet.
Die freimaurerischen Grundsätze, dass die Zustände in der Welt nur dann verbessert werden können, wenn jeder Einzelne erst einmal mit sich selbst ins Reine kommt und unermüdlich vorurteilsfrei an seiner persönlichen humanistischen Entwicklung arbeitet, legen jedem Freimaurer eine hohe Latte als Voraussetzung für die Übernahme von Verantwortung auch für das Wohlergehen der Menschheit.
Die Verbundenheit in der internationalen Bruder- und Menschenkette, das Denken in ethisch-moralischen Kategorien ohne Dogmatismus, jedoch mit Langzeit-Perspektiven, das die Freimaurer auszeichnet, stellt einen gesellschaftspolitischen Gegensatz zu kurzsichtigen parteipolitischen Gegebenheiten und Vorgängen dar. Diese Chancen müssen auch wahrgenommen werden. Die Freimaurer müssen vor allem das werden, was am meisten wirkt: Vorbilder in der Gesellschaft.