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Zwischen Ritterromantik und Freimaurerei

Die Wildensteiner Ritterschaft zur blauen Erde

Am 4. Oktober 1812 begaben sich auf der Burg Seebenstein, ca. 20 km. südwestlich von Wiener Neustadt, bemerkenswerte Dinge. Männer und Frauen gesetzteren Alters trafen sich zu einer Festlichkeit, die als „Wildensteiner Bankett“ in die Literatur eingegangen ist. Einige kurze Zitate aus einer zeitgenössischen Beschreibung vermitteln uns einen Einblick in das Geschehen:

Diesen höchst erfreulichen Tag kündigten der Donner der Pöllerschüsse mit aufgehender Sonne an. Nachdem bei einem altdeutschen Morgen-Imbiss unter dem Donner der Pöller und Schmettern der Trompeten und Pauken zu dreimalen auf die Gesundheit Seiner kaiserl. königl. Majestät die Pokale geleert wurden, sammelten sich gegen 9 Uhr die Ritter und Knappen, auch Frauen, in verschiedenen altdeutschen Kleidern und Rüstungen in dem untern dritten Vorhof der Veste.

Nach dem Umtrunk und in guter Stimmung begab sich die Gesellschaft in den inneren Bereich der Burg, besichtigte die Innenhöfe und historischen Räumlichkeiten und traf sich anschließend in der dreieckigen Kapelle zu einer Messe. Bevor das Festmahl beginnen konnte, wurden die Ehrengäste begrüßt:

Gerade vor dem Mittags-Imbiss ertönte die Trompete, und der Wachtweibel meldete dem Oberritter die Ankunft des hochedlen Burgherrn und Ritters Hanns auf Rauchenstein mit seiner edlen Burgfrau, und Hanns der Stixensteiner erscheinen in voller so selten als schönen Rüstung von Fuß bis Kopf, von Eisenblech versilbert, gepanzert und geharnischt mit Helm, Schild und Schwert, dann einer weiß und roth seidenen Binde, worüber sich Alles freudig wunderte.

Nun konnte das eigentliche Fest beginnen.

Die in Form eines Hufeisens aufgestellte Tafel war durchaus nach altem Gebrauch mit blauen Tischtüchern gedeckt und die hohen Gäste, wie auch die Ritter und Frauen, mit japanischem Geschirr, altmodischen Silberlöffeln, Messern und Gabeln, diese letzteren meistens von Hirschgeweihen selten oder künstlich geschnitzt, bedient.

Während dem Auf- und Abtragen der Speisen wurden von den ritterlichen Minnesängern unserer Gesellschaft bald deutsche, bald italienische Solo und Quadros, auch mitunter Wildensteiner Lieder abgesungen, wobei die seltene vollkommene Stille bei einer so zahlreichen Tafel gewiss der größte Beweis des ganzen Vergnügens war.

Die Feierlichkeit dauerte den ganzen Tag über, bis zu später Stunde eine weitere Stärkung gereicht wurde:

Der Nacht-Imbiß, der mit gleicher Formalität, Einigkeit und Freude unter abwechselnder Musik, Gesang und Scherz genossen wurde, dauerte bis Mitternacht, da sich dann die Frauen und Dirnen in ihre Schlafkammern, die Männer aber in ihre gemeinschaftliche Casematten zur Ruhe begaben.

Ein ausgelassenes Fest mit Kostümierung auf einer historischen Burg ist an und für sich nichts Besonderes. Derartiges gab es in früherer Zeit ebenso wie heute. Versehen mit dem Terminus Reenactment erheben derzeit manche dieser Veranstaltungen sogar einen wissenschaftlichen Anspruch.

Kann es sein, dass hinter dem Treffen der Ritter und ihrer Gefolgschaft mehr steckte als die Lust an gemeinsamen Gelagen in einer romantischen Burg? Um das herauszufinden wollen wir zunächst einen Blick auf die Vita des Hauptakteurs werfen. Der Gründer der „Wildensteiner Ritterschaft zur Blauen Erde“, so der klingende Name der Vereinigung, war Anton David Steiger, der 1755 in Pötsching geboren wurde. Steiger war zunächst als Verwalter in mehreren Gutsbetrieben tätig und erhielt schließlich mit Unterstützung von Fürst Joseph Franz Palffy die Möglichkeit, an der Bergbauakademie in Schemitz zu studieren. Diese, in der heutigen Slowakei liegende Akademie war eine noch sehr junge Institution, die hochqualifizierte Fachkräfte für den Bergbau ausbildete. In Schemitz wurde Steiger mit Ignaz von Born bekannt, der ebenfalls Mineraloge und einer der einflussreichsten Wiener Freimaurer war. Von Born führte Steiger in die Freimaurerei ein und machte ihn nach dessen Rückkehr nach Wien mit Kaiser Joseph II. bekannt. Steiger erhielt in der Folge mehrere Anstellungen im südlichen Niederösterreich und ab 1792 war er Ökonomieverwalter und Zahlmeister – heute würde man sagen kaufmännischer Geschäftsführer – der Maria Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt. Diese Tätigkeit ließ ihm genügend Zeit, nebenher seinen durchaus erfolgreichen privaten Geschäften und Interessen nachzugehen.

Obwohl Steiger in beruflicher Hinsicht technisch und naturwissenschaftlich orientiert war, dürfte er ein sehr romantisches Naturell besessen haben. Er pachtete nämlich ab 1788 die Burg Seebenstein, die damals seit einem halben Jahrhundert unbewohnt und baufällig war. Gemeinsam mit dem Besitzer, Joseph Graf von Pergen, der früher ebenfalls dem Bund angehört hatte, finanzierte er die Renovierung ganz im Stil einer mittelalterlichen Burg. Da zu einer Burg auch Ritter gehören, gründete Steiger 1790 die Wildensteiner Ritterschaft zur blauen Erde. Wie kam es zu diesem Namen? Im 12. Jahrhundert gehörte die Burg dem Geschlecht der Wildensteiner. Durch den Bezug auf die frühen Vorbesitzer versuchte Steiger, die Wurzeln seiner Ritterschaft im Mittelalter zu verankern.

Komplexer ist die Erklärung des Begriffs der „blauen Erde“, der mehrere Deutungen zulässt. Blau ist die Farbe der Romantik, die „blaue Blume“ ist ein immer wiederkehrender literarischer Topos. Blau ist aber auch das sehr seltene Mineral Lazulit (auch Lapis Lazuli genannt), das bis dahin nur in Asien gewonnen wurde. Steiger hatte erstmals ein kleines Vorkommen in der Steiermark entdeckt. Blau ist jedoch auch – und jetzt sind wir wieder beim eigentlichen Thema angelangt – die Farbe der Johannismaurerei.

Wie bekannt, war in Österreich die Maurerei ab 1785 stark eingeschränkt und unter Kaiser Franz II. sogar streng verboten worden. Anders war die Situation in Deutschland, wo sie nicht nur erlaubt war, sondern von manchen Landesfürsten aktiv gefördert wurde. Da eine gedruckte Liste der Namen von 255 „Rittern“ vorliegt, lässt sich nachweisen, dass viele Wildensteiner zuvor Wiener Logen angehört hatten, oder in Logen außerhalb der Monarchie arbeiteten.

Heute mag uns die Kostümierung als Ritter als ein rückwärtsgewandtes Freizeitvergnügen erscheinen. Betrachtet man jedoch die Außenwirkung dieser Gemeinschaft, so gerät man ins Staunen. Ehrenritter waren unter anderen Herzog Karl August von Weimar, Prinz Wilhelm, der spätere König von Preußen und Leopold von Sachsen Coburg-Gotha, der spätere König von Belgien. Auch der österreichische Hochadel war prominent vertreten: ab 1813 hatte Erzherzog Johann, der Bruder von Kaiser Franz I., unter dem Decknamen „Hanns von Oesterreich, der Thernberger“ den Rang eines Hoch- und Großmeisters inne. Möglicherweise war die Ritterschaft für den Erzherzog ein Surrogat für die Freimaurerei, die ihm als Mitglied des Kaiserhauses verwehrt war. Mehrere Hinweise, die mit der Angelobung des Erzherzogs als deutscher Reichsverweser in Verbindung stehen, deuten darauf hin. So besuchte er 1848 in Frankfurt die Loge „Zur Einigkeit“ und soll dort gesagt haben: „Ich bin kein Maurer, denn wir dürfen nicht. Doch mein Großvater und meine Lehrer sind Freimaurer gewesen“. Der erwähnte Großvater war Franz Stephan von Lothringen. Sehr vertraut klingt für uns auch die Angelobungsformel, die der Erzherzog vor der deutschen Nationalversammlung sprach:

Ich gelobe in Ehrfurcht vor dem Allerhöchsten mein Amt auszuüben, wobei Weisheit mein Leisten, Stärke meine Devise und Schönheit und Harmonie aller Menschen mein Ziel ist.

Nach diesen Zeilen, die wie eine Paraphrase unseres Ritualtextes klingen, stellt sich nun die Frage, wie nahe zumindest ein Teil der Ritterschaft der Freimaurerei stand. Wie schon erwähnt, gehörten mehrere Mitglieder früher den inzwischen verbotenen Wiener Logen an. Die Nähe zur Freimaurerei wird besonders deutlich, wenn man die 1806 formulierten Statuten der Ritterschaft liest. Der Text erinnert über weite Strecken an unsere Alten Pflichten oder an ein Hausgesetz, bei dem der Begriff „Bruder“ durch „Ritter“ ersetzt wurde. Hier einige Beispiele. Bereits im §1 wird Johannes der Täufer als Schutzpatron der Ritter genannt. Bei der Versammlung haben der Oberritter und der Marschall einen Hammer zur Seite. Bei den Zusammenkünften durfte nicht über Religion oder die Landesregierung debattiert werden. Ein Knappe musste vor der Aufnahme von mehreren Rittern geprüft werden. Vor der Aufnahme wurden ihm die Augen mit einem blauen Tuch verbunden. Danach wurde der Kandidat in die Gerichtsstube der Burg geführt, wo die Aufnahmezeremonie stattfand. Nach mehreren prüfenden Fragen und einem Rundgang, bei dem er von jedem Ritter einen leichten Schlag auf die Schulter erhielt, sprach der Marschall: „Man lasse den angehenden Knappen niederknien auf sein linkes Knie und Licht werden.“ Abgesehen von diesen offensichtlichen Parallelen gab es auch in der Organisationsstruktur und bei gewissen Symbolen, wie dem Dreieck mit eingeschriebenem Auge, Anklänge an die Maurerei.

Nach außen hin agierten die Wildensteiner Ritter offen und transparent. Ein Fest mit zahlreichen Gästen, Böllerschüssen und schmetternden Trompeten wäre ohnehin kaum verborgen geblieben. Was möglicherweise im inneren Zirkel geschah entzieht sich unserer Kenntnis. Es gibt Hinweise, dass manche der Ritter mit den Jacobinern sympathisierten. So findet sich etwa ein verborgener Hinweis im Titel des oben genannten Buchs mit der Beschreibung des Ritterfests. Es ist datiert mit dem „4. Weinmonats Tag 1812“. Der Weinmonat, französisch Vendémiaire, entspricht dem Oktober im französischen Revolutionskalender. Besonders pikant ist, dass bei diesem Fest der Namenstag von Kaiser Franz I. gefeiert wurde.

Apropos Kaiser Franz: zunächst war der Kaiser den Wildensteinern durchaus wohl gesonnen. 1811 beehrte er die Ritterschaft sogar mit einem Besuch auf der Burg Seebenstein. Aus Gründen, die wir heute nicht mehr nachvollziehen können, wandelte sich seine Einstellung und 1823 folgte das Aus. Er ordnete dem Regierungspräsidenten Augustin Reichmann an, ein entsprechendes Schreiben an Anton Steiger zu richten. Dieses soll hier zitiert werden, um zu zeigen, zu welch blumigen Sprachellipsen die Spitze der Verwaltung in der österreichischen Monarchie fähig war:

Ich wende mich mit dieser Bemerkung an Sie, Herr Zahlmeister, als den Vorsteher der Gesellschaft, indem ich nicht zweifle, daß sie und die sämmtlichen Gesellschaftsglieder hierin einen Beweis meines Vertrauens und meiner Achtung, zugleich aber auch einen hinlänglichen Beweggrund finden werden, die Gesellschaft unverzüglich gänzlich aufzulösen und ihre Versammlungen für immer einzustellen.

Ich berge Ihnen auch nicht, daß die Gesellschaft hierdurch einem ausdrücklichen Allerhöchsten Befehl entgegen kommen werde und ich ersuche Sie, mir ehestens anzuzeigen, wie und in welcher Art und Weise sie demselben nachgekommen ist, indem ich von höherem Ort angewiesen bin, hierüber zu berichten.

Zwar hatte Anton Steiger unter dem Decknamen „Hainz am Stein der Wilde“ die Ritterschaft gegründet, er war aber nicht deren Vorsteher. Der eigentliche Adressat wäre deren Hoch- und Großmeister Erzherzog Johann gewesen. Aber vermutlich war es dem Kaiser doch zu peinlich, seinem Bruder die Liquidierung einer Gesellschaft anzuordnen, die unter dessen Leitung stand.

Selbst die Nachgeschichte der Ritterschaft liefert uns ein Indiz für die Nähe zur Maurerei. Nach der Auflösung wurden die Akten der Wildensteiner, eine Siegelsammlung und mehrere Erinnerungsstücke an die Grenzloge „Verschwiegenheit“ in Bratislava übergeben und dort in einem Freimaurermuseum ausgestellt.

Die Beschäftigung mit der Wildensteiner Ritterschaft hat bei mir eine Reihe von Fragen ausgelöst, die ich gerne gemeinsam mit euch diskutieren möchte. Handelte sich bei den Rittern auf der Burg Seebenstein wirklich nur um eine Handvoll retro-orientierter Sonderlinge, die sich mit ihren Rüstungen und Schwertern auf eine Zeitreise in die Vergangenheit begaben? Waren die Ess- und Trinkgelage mit Trompeten, Trommeln und kostümierten Minnesängern wirklich der Endzweck oder etwa nur eine Fassade, hinter der sich mehr verbarg? Handelte es sich etwa um einen Kern von eingefleischten Freimaurern, die eine ahnungslose „Ritterschaft“ als Tarnung um sich scharte?

Diese Fragen sind legitim, auch wenn die vorhandenen Quellen nichts zu ihrer Beantwortung beitragen. Wir können das Fragespiel allerdings auch weiterspinnen und überlegen, was von unserer Tätigkeit als Freimaurer in der Zukunft sichtbar bleiben wird. Nehmen wir einmal an, dass unsere abgelegten Schriftstücke und Akten die Zeitläufe überstehen und dass sich Historiker in 200 Jahren aus irgendwelchen Gründen für die Geschichte der Loge Logos interessieren. Wird er oder sie den Eindruck gewinnen, dass wir erfolgreich am Gebäude der Menschlichkeit gearbeitet haben und dass wir die Flamme, die unsere masonischen Vorfahren vor mehr als 300 Jahren entzündet haben, auch im 21. Jahrhundert zum Leuchten gebracht haben? Oder wird die Analyse unserer fiktiven Forscher*in etwa so klingen:

Auf Grund der vorliegenden Dokumente mussten wir den Eindruck gewinnen, dass die Loge nach Überwindung der Pandemie in den frühen 2020er Jahren eine krisenhafte Situation durchlief. Die schwindende Mitgliederzahl (siehe Tabelle 1) sowie die starke Fluktuation in den Führungspositionen deuten darauf hin. Im Aktenbestand fanden sich zahlreiche Schriftstücke, wie Protokolle oder Entwürfe für Organisationsstrukturen, was den Schluss nahelegt, dass die Geschwister der Loge das Geheimnis der Freimaurerei vor allem in der Arbeit an strukturellen Fragen zu finden glaubten.

Hiram-Keine Biographie

HIRAM – Keine Biographie

Br. Rudi H.

Baustück vom 23.02.6023

Wie der Titel meines Baustücks verrät, geht es heute nicht um die Biographie einer historischen Persönlichkeit, und das hat einen einfachen Grund: Im Alten Testament begegnen uns nämlich zwei Protagonisten mit dem Namen Hiram, die offensichtlich nicht verwandt sind und deren historische Existenz kaum fassbar ist. Da ist zunächst Hiram, der König von Tyros, der als Zeitgenosse König Davids im Buch Samuel erwähnt wird. Für uns wichtiger ist jener Hiram, der ebenso aus Tyros in Phönizien stammte und als Metallhandwerker unter König Salomon für den Bau des Tempels verantwortlich war.

Mehrere Stellen im Alten Testament beziehen sich auf diesen Baumeister und bis heute kommt Hiram und dem Salomonische Tempel, der allerdings in der Römerzeit zerstörte wurde, in der jüdischen Tradition eine zentrale Bedeutung zu. Mit der Ausbreitung des Christentums entstanden ab dem Mittelalter und vermehrt in der Gotik architektonisch aufwändige Sakralbauten. Da es in der Tradition der christlichen Bauhütten keine Persönlichkeit gab, die als Stammvater geeignet gewesen wäre, wurde der Baumeister des Salomonischen Tempels auch zum Ahnherrn der Konstrukteure der gotischen Kathedralen. Unabhängig von den Bibelstellen, die keine Auskunft über Hirams persönliches Schicksal geben, begannen sich zu einem heute nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt Legenden um sein Leben und Sterben zu ranken. Hiram als Baumeister des Tempels fand Eingang in mehrere Schriften, die als Regelwerke für die gotischen Bauhütten anzusehen sind. Diese bilden ihrerseits die frühesten Quellen für das Entstehen der spekulativen Freimauerei.

Wenn heute in der Loge von den Alten Pflichten die Rede ist, denken wir an die Konstitutionen des Reverend Anderson aus dem Jahr 1723. In der fm. Forschung wird dieser Begriff weiter gefasst. Es wird damit ein Bestand von ungefähr 130 Dokumenten bezeichnet, deren älteste auf das 14. Jahrhundert zurückgehen und in denen allgemeine Regeln für die Organisation der Dombauhütten festgelegt wurden. Für unser Thema sind diese frühen Quellen interessant, da hier zum ersten Mal der Bau des Salomonischen Tempels mit den Prinzipien der spekulativen Maurerei in Verbindung gebracht wird. In einigen dieser ausschließlich englischsprachigen Quellen wird Hiram namentlich genannt, in anderen wird nur allgemein vom „master of all masters“ gesprochen. Noch verwirrender wird die Angelegenheit wenn wir im Manuskript Harris Nr. 1 (vermutlich vor 1481) lesen, der Baumeister wäre der „Sohn von Hyram, König von Tyros“ gewesen. Abgesehen davon enthält diese Quelle jedoch eine Begriffsdefinition, die für die Entstehung der spekulativen FM wichtig ist. Sie lautet in Übersetzung:

Dabei ist es scheinbar so, dass die Geometrie, die nun Freimaurerei (Free-Masonry) genannt wird, eine Kunst oder Wissenschaft ist, die über allen anderen steht, die auf ihr aufbauen.

Harris setzt also die Begriffe Geometrie und Freimaurerei auf dieselbe Stufe. Da die Geometrie eine der Artes Liberales, also der sieben Freien Künste war, könnte das die Entstehung des Begriffs Freimaurerei erklären. Laut dieser Quelle bildeten die Meister-Maurer eine eigene Berufsgruppe, sie beherrschten die Geometrie und waren für die Entwürfe und nicht für deren Ausführung verantwortlich. Der Weg zur Spekulativen Freimaurer war damit geöffnet.

Seit der Gründung der ersten Großloge im Jahr 1717 ist Hiram als Baumeister des Salomonischen Tempels unverzichtbarer Teil der freimaurerischen Gedankenwelt. Wann die Legende, die sich um sein Sterben rankt, in die Ritualtexte Eingang fand, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. In den 1723 gedruckten Old Charges wird Hiram als Baumeister erwähnt, die Legende teilt uns Anderson jedoch nicht mit. Trotzdem dürfte sie damals bereits Bestandteil von Ritualtexten gewesen sein, da sie in Pritchards „Verräterschrift“ aus dem Jahr 1730 im Meisterritual erzählt wird.

Kurz eingehen möchte ich auf ein erstmals 1764 in London erschienenes Buch mit dem Titel „Hiram: Or The Grand Master-Key to the Door of Both Antient and Modern Free-Masonry“.

Der Druck ist für uns von Interesse, da die darin wiedergegebene Hirams Legende möglicherweise das Vorbild für Schröders und in weiterer Folge für unsere Version bildet. Im Londoner Druck ist die Legende Teil der Belehrung bei der Meistererhebung und die Erzählung weicht nur in einigen wenigen, aber nicht uninteressanten Punkten von unserer ab. So erfolgt der Angriff der drei mörderischen Gesellen nicht mit Hämmern, sondern mit folgenden Werkzeugen: der erste Geselle benützt einen 24-zölligen Maßstab, der zweite verwendet ein Winkelmaß und nur der dritte, letale Schlag wird mit einem „Setting Maul“, einem hölzernen Schlägel, mit dem die Steine positioniert wurden, ausgeführt.

Abweichend ist auch die Reaktion der Gesellen beim Auffinden von Hirams Leiche. Sie heben die Hände und rufen: „O Lord my God!“, was somit zum neuen Meisterwort wird.

Schröder folgt in seiner Version weitgehend diesem englischen Ritual. Manche Textstellen sind eigentlich Übersetzungen, bei den Anweisungen für die handelnden Personen ist Schröders Version jedoch viel ausführlicher. Diese Regieanweisungen weisen Schröder als routinierten Theatermensch aus. Einige dieser Details möchte ich mit euch teilen, und Sr. Susanne wird mich dabei unterstützen.  

Da wäre zunächst die Lage von Hirams Leichnam nach der Ermordung durch die Gesellen. Schröder beschreibt sie folgendermaßen:

Der Erste Aufseher legt ihn so, daß der linke Arm gerade am Leibe herunter und das linke Bein ausgestreckt liegt. Der Zweite Aufseher legt die rechte Hand des zu Erhebenden auf dessen linke Brust, das rechte Bein beugt er so, daß die Sohle auf dem Fußboden steht.

Ausgehend von dieser Position ist es anschließend leichter, Hiram mit den fünf Punkten der Meisterschaft zu heben.

In unserem Ritual fehlt jene Passage, in der es um die Entdeckung der Möder geht und der Schröder als Dramatiker weiten Raum gibt:

Hiram wurde bald vermißt, und Salomo stellte vergebliche Nach­forschungen an, bis die zwölf Gesellen, die den Vorsatz bereut hatten, zum Zeichen ihrer Unschuld mit weißen Schürzen und Handschuhen angetan, vor den König traten und ihm entdeckten, was sie wußten. Salomo schickte sie aus, die drei Mörder zu suchen, welche die Flucht ergriffen hatten. Einer von den Ausgesendeten, der ermüdet an der Seite eines Felsens ruhte, hörte aus einer Kluft Wehklagen:

Oh, dass eher meine Gurgel durchschnitten wäre, ehe ich teil an dem Morde unseres Meisters nahm!

Und wieder vernahm er ein anderes Jammern:

Oh, dass eher mein Herz aus meiner Brust gerissen worden wäre, ehe ich die frevelnde Hand an unseren Meister legte.

Und zum dritten Mal hörte er stöhnen:

Oh, dass man eher meinen Körper in zwei Teile geteilt hätte, ehe ich den teuren Meister erschlug!

Der Geselle holte seine Gefährten; sie stiegen in die Kluft, fanden die Mörder, griffen und schleppten sie vor Salomo. Die Übeltäter bekannten ihre Tat, verlangten den Tod und erhielten ihn durch die selbstgewählten Strafen.

Hierauf sandte Salomo einige Meister aus, um Hirams Körper auf­zusuchen, damit er an heiliger Stätte begraben würde.

Der weitere Verlauf mit den drei Rundgängen um das Grab entspricht unserem Ritual, beim Aufdecken des Tuches finden wir folgende Anweisung:

Der Zweite Schaffner nimmt dem zu Erhebenden rasch das Tuch ab, darauf machen alle Brüder das Erstaunungszeichen und treten dann in das Meister­zeichen.

Schröder erwähnt dieses Erstaunungszeichen auch im anschließenden Katechismus, ohne uns allerdings eine klare Vorstellung von seiner Ausführung zu geben:

Das zweite Zeichen ist das Erstaunungs- oder große Meisterzeichen, welches nur bei Erhebungen gebraucht wird.

Wie vielerlei Zeichen haben die Meister?

Zweierlei: Das Meisterzeichen und das Erstaunungszeichen. Das erste bezieht sich auf die Verpflichtung und das zweite auf die Geschichte.

Für die Erhebung Hirams gibt Schröder folgende Anweisungen:

Meister zum 2. Aufseher:

Mein Bruder! Versuchen Sie Ihre Kraft, den Körper aufzuheben.

Der Zweite Aufseher ergreift den Liegenden bei dem Zeigefinger der rechten Hand, lässt diesen durchschlüpfen und spricht:

Jakin! Die Haut verlässt das Fleisch!
Meister zum 1. Aufseher:

Mein Bruder! Versuchen Sie denn Ihre Kraft!

Der Erste Aufseher fasst den Liegenden bei dem Mittelfinger der rechten Hand, lässt diesen durchschlüpfen und spricht:

Boas! Das Fleisch verlässt das Bein.
Meister:

So will ich es versuchen, ihn durch die fünf Punkte der Meisterschaft zu heben.
Er setzt seinen rechten Fuß gegen den rechten Fuß des Liegenden und stellt Knie gegen Knie. Mit der rechten Hand fasst er dessen rechte Hand über dem Faust­gelenk und zieht ihn zu sich empor, so dass Brust gegen Brust steht. Der Meister legt die linke Hand um die Schulter des Erhobenen und flüstert ihm halblaut in das eine Ohr: Macbenach, und leiser in das andere Ohr: Er lebt im Sohne! Das Wort Macbenach wird dabei von allen Brüdern halblaut nachgesprochen.

Durch das neue Meisterwort und durch die fünf Punkte der Meisterschaft erkläre ich Sie zum Freimaurer-Meister.

Er berührt die Gurgel des Erhobenen mit dem Hammer.

Zur Ehre des Großen Baumeisters aller Welten!

Er berührt die linke Brust des Erhobenen.

Im Namen der Vereinigten Großlogen von Deutschland.

Er berührt die Stirn.

Und kraft meines Amtes als Meister vom Stuhl der Loge …

Alle Brüder vollenden das Meisterzeichen und setzen sich.

Nach der Erhebung folgt eine Belehrung, bei der ebenfalls auf die Symbolik eingegangen wird:

Wie heißt das Paßwort der Meister?

Tubal Kain. Es bezeichnet den Übergang von der zweiten zur dritten Stufe. Viele Logen gebrauchen es bereits im ersten Grade; sie haben deshalb im Meistergrade teils Giblim, teils Cassia angenommen.

Wie klopfen die Meister?

Mit drei langsamen Schlägen, deren letzter verstärkt wird.

Worauf deuten sie hin?

Auf Hirams Todesschläge

Und die drei Meisterschritte?

Auf Geburt, Leben und Tod.

Nach dieser Zusammenfassung einiger Passagen aus Schröders Ritual möchte ich abschließend der Frage nachgehen, warum diese Legende eine so prominente Stellung in unserem Ritual erlangen konnte. Abgesehen von der Dramatik, die der Hirams-Legende zugrunde liegt, enthält sie eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten zur freimaurerischen Symbolik, zu Ritualtexten und zu unseren ethischen und moralischen Zielsetzungen als Nachfolger Hirams. Knapp zusammengefasst und ohne Anspruch auf Vollständigkeit möchte ich folgende Stichworte nennen:

Hiram ist der Baumeister des wichtigsten Sakralbaus der jüdisch / christlichen Glaubenswelt

Der Ablauf des Baus ist arbeitsteilig organisiert, und basiert auf einem hierarchischen System

            Hiram verfügt über ein Wissen, das ihn an die Spitze dieser Hierarchie stellt

Er hütet ein Geheimnis, das er auch im Tod nicht preisgibt

Fünfzehn Gesellen sind neiderfüllt und wollen aus niederen Beweggründen die hierarchische Struktur gewaltsam überwinden

Zwölf Gesellen schrecken zurück

Drei Gesellen sind zu einem Kapitalverbrechen bereit

Die drei Gesellen laden schwere Schuld auf sich, können durch das Verbrechen jedoch nichts gewinnen

Nach dem Mord versuchen sie zu entkommen, sie werden entdeckt und bestraft

Der Dornenzweig, der Hirams Grab markiert, verwandelt sich in einen grünen Akazienzweig (diese Passage fehlt bei Schröder)

Die Transformation von toter zu belebter Materie, die sich am Zweig vollzieht, wird bei Hirams Erhebung wiederholt

Diese Erhebung ist der dramatische Höhepunkt der Erzählung und bildet die Vollendung des Dritten Grads und somit die höchste Erkenntnisstufe der Johannismaurerei. Der Legende nach befand sich Hirams Köper bei der Auffindung bereits im Zustand der Verwesung. Auf drastische Weise wird im Ritual angedeutet, dass sich die Haut und das Fleisch vom Knochengerüst lösen. Trotzdem kann der Meister durch die fünf Punkte der Meisterschaft Hiram heben. Diese Transformation hat dazu geführt, dass in christlich ausgerichteten Logen die Erhebung Hirams mit der Auferstehung Christi verglichen wurde. Dabei wird jedoch übersehen, dass zwischen den beiden Erzählungen ein wesentlicher Unterschied besteht. Glaubt man der christlichen Lehre, ist Jesus „von den Toten auferweckt“ worden, indem sein Leib in den Himmel aufgefahren ist. Die Jünger Jesu öffneten das Grab und dieses war leer. Im Gegensatz dazu fanden die drei Gesellen den Leib Hirams im Stadium der Verwesung. Es handelte sich somit nicht um eine fleischliche Auferstehung, sondern um eine spirituelle Transformation, bei der der Geselle zum Meister wird. Diese Verwandlung erfolgt in einem  stufenweisen Prozess: Am Beginn unseres Rituals betreten der oder die zu Erhebende den Tempel als Geselle. Danach wird der Geselle in die Rolle Hirams versetzt. Er erleidet symbolisch dessen Tod und wird mit dem Prozess der Verwesung konfrontiert. Erst danach, wenn der Geselle der Vergänglichkeit anheimgefallen ist, erfolgt die „Erhebung“. Durch diese rituelle Transformation wird uns anschaulich vor Augen geführt, dass mit der Aufnahme in den höchsten Grad der Geist Hirams in uns weiterlebt. Und damit schließt sich der Kreis zum eingangs gesagten: In der spekulativen Freimaurerei ist der Meister für die Geometrie, also für den Entwurf des Werks verantwortlich. Im Gegensatz zu den Baumeistern des Salomonischen Tempels verbleiben wir jedoch immer auch im 1. Grad und sind somit weiterhin für die Ausführung verantwortlich. Aus diesem Grund erinnert uns das Schlussritual nach jeder Arbeit:

„So wie hier drinnen durch das Wort, im Leben durch die Tat.“

Aus eigener Erfahrung und aus Gesprächen mit Geschwistern weiß ich, dass unser Erhebungsritual eine besondere Qualität aufweist dass es etwas auslöst und für viele ein entscheidender Moment in der freimaurerischen Laufbahn ist. Die heutige Diskussion würde ich gerne zum Anlass nehmen, die persönlichen Eindrücke und Erinnerungen an eure Erhebung zurückzuholen und zu reflektieren, wie ihr diesen Moment des Todes empfunden habt.

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Kettenspruch (Schröder)

Was aus dem Staub geboren,

Muß wieder werden Staub;

Der Geist ist nicht verloren,

Nicht der Verwesung Raub.

Er ist ein ew’ger Hauch aus Gott

Und sieget über Zeit und Tod.

Laßt denn die Blätter fallen,

Die Blumen nur verblühn;

Laßt jede Freud’ verhallen,

Die Lust vorüberziehn!

Wir sind und werden ewig sein;

Der Tod ist Sieg und keine Pein.

Einführende Worte anlässlich der Übernahme des Hammers als interimistischer Meister vom Stuhl der Loge LOGOS am 1. September 6022

Liebe Geschwister,
Vor genau 10 Jahren durfte ich bei einer Festarbeit der LGL ein BS mit dem Titel „Auf dem Weg zu einer Liberalen Freimaurerei“ halten. Als ich mit den Überlegungen zu meinen heutigen Begrüßungsworten begann, musste ich feststellen, dass ich damals einiges formuliert habe, das auch heute noch Gültigkeit besitzt, und das ich daher wieder in Erinnerung rufen will. Aktuell wird es dann im zweiten Teil, in dem ich einige Aspekte ansprechen will, die mir bei der Übernahme dieses Amtes wichtig sind.
Unserem Selbstverständnis entsprechend nennen wir uns liberale Freimaurer. Soweit ist alles klar. Angenommen ihr werdet gefragt: „Was macht denn die liberale FM aus? Worin unterscheidet sie sich von der nichtliberalen, der traditionellen FM?“ Dann wird als erste Antwort vermutlich kommen: „Wir akzeptieren auch Frauen – offiziell – als Geschwister“. Man könnte noch hinzufügen: „Wir sind als Obödienz keiner wie immer gearteten über-geordneten Institution verpflichtet und beachten die Logenautonomie“. Aber dann wird es schon schwierig.
Eine endgültige Definition, was unter Liberaler Freimaurerei zu verstehen ist, kann ich heute nicht anbieten. Was ich versuchen will ist, einige Hinweise zu geben, wie ein „Weg zur Liberalen Freimaurerei“ aussehen könnte. Diesen Titel habe ich nicht nur aus Vorsicht gewählt, sondern auch im Bewusstsein, dass sich einerseits jeder Freimaurer ständig „auf dem Weg“ befindet und andererseits ein so vielschichtiger Begriff wie der der Liberalität ohnehin nicht allgemeingültig definiert werden kann.
Genauso wie es in der traditionellen Freimaurerei ganz unterschiedliche Spielarten und Ausprägungen gibt, wird es auch in der liberalen Freimaurerei immer unterschiedliche Ausrichtungen geben. Das liegt sowohl im Wesen der Freimaurerei begründet, als auch in der Dehnbarkeit des Begriffs „liberal“. Auf gesellschaftspolitischer oder politikwissenschaftlicher Ebene kann man darunter fast alles verstehen, was nicht wertkonservativ ist. Es kann sowohl wirtschaftsliberal bedeuten, als auch einen toleranten gesellschaftlichen Umgang. Politische Parteien, die sich als liberal bezeichnen, haben uns im Laufe der Geschichte immer wieder vor Augen geführt, wie vieldeutig dieser Begriff in der Praxis angewendet werden kann.
Liberal bedeutet für uns zunächst: Wir sind als Obödienz keiner übergeordneten Institution verantwortlich und die einzelnen Logen agieren autonom. Diese Entwicklung begann 1953, als mehrere Brüder der Loge „Zukunft“ sich abspalteten und eine eigene Loge gründen wollten. Da ihnen dies verwehrt wurde, arbeiteten sie zunächst unter freiem Himmel und
gründeten schließlich 1955 die „Unabhängige Freimaurerloge Wien“. Die weitere Ent-wicklung unserer Logen bzw. unsrer Obödienz ist bekannt, wobei nicht vergessen werden soll, dass erst dreißig Jahre später, nämlich im Jahr 1985, erstmals Frauen in zwei der Logen aufgenommen wurden.
Eines der wesentlichen Merkmale, das die in der LGL vertretenen Logen als „liberal“ auszeichnet, ist für mich die im Jahr 1975 erfolgte Formulierung der so genannten „Neuen Pflichten“. Die grundsätzliche Akzeptanz der von Anderson 1723 zusammengefassten „Alten Pflichten“ steht für jeden Freimaurer außer Zweifel. Da sich jedoch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in den letzten 300 Jahren massiv geändert haben, kann es klarerweise nicht um eine wörtliche Erfüllung dieser Old Charges gehen. Wenn wir als Freimaurer in Zukunft soziale Relevanz für uns in Anspruch nehmen wollen, wird es nicht zuletzt darum gehen, den Geist, der aus den Old Charges spricht, mit den Ansprüchen der „Neuen Pflichten“ in Einklang zu bringen. Dabei sollten wir uns bewusst sein, dass auch die „Neuen Pflichten“ keinen definitiven und endgültigen Wertekanon darstellen, sondern in unserer schnelllebigen Zeit vermutlich immer wieder einer Feinjustierung bedürfen.
In der Präambel der „Neuen Pflichten“ werden drei Punkte angegeben, die sehr stringent zusammenfassen, warum die liberale Freimaurerei einer Ergänzung der Andersonschen Vorgaben bedarf. Ich möchte sie heute in Erinnerung rufen:

  1. Zur Zeit Andersons standen die Menschen unter so einem starken Zwang staatlicher und kirchlicher Mächte, dass die Äußerung freiheitlicher Gedanken gefährlich war. In den Alten Pflichten sind daher viele solcher Gedanken nur in versteckter Form enthalten. Wo heute die Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung besteht, erscheint es geboten, den Sinn der Alten Pflichten deutlich auszusprechen.
  2. Durch die inzwischen eingetretene gesellschaftliche Entwicklung haben viele Menschen neue Rechte erworben. Neuen Rechten müssen aber auch neue Pflichten gegenüberstehen, sofern eine menschenwürdige Ordnung gesichert sein soll.
  3. Bisher war der Mensch vorwiegend durch die ihn umgebende Natur bedroht. In dem Maße, in dem der Mensch lernte, die ihm fremde Natur zu beherrschen, wurde seine eigene Natur zur größten Gefahr für das Überleben der Menschheit.
    Nachdem sich, wie oben erwähnt, einige Brüder im Jahr 1953 von der Loge „Zukunft“ abgespalten hatten, setzten sie eine intensive Ritualdiskussion in Gang, die auch die freimaurerischen Symbole und die Bekleidung betraf. So verzichtete man damals auf den Schurz, auf die Handschuhe und auf die beiden Säulen im Tempel. Das Ritual war knapp und sachlich gefasst. In jenen Logen, die aus der „Unabhängigen Freimaurerloge Wien“ im Lauf der Jahre hervorgegangen sind, und die heute die LGL bilden, wurden viele dieser puristi-schen Einschränkungen wieder rückgängig gemacht.
    Es bleibt unbestritten, dass in einer liberal ausgerichteten Loge bzw. Obödienz derartige Änderungen und Anpassungen legitim sind und durchgeführt werden können. Allerdings ist immer zu bedenken, dass alle Symbole, Werkzeuge, Ritualtexte und nicht zuletzt die Einrichtung der Loge einen historischen Kontext haben, der in allen Fällen sachlich begründet
    ist, oder zumindest begründet sein sollte. Jede Änderung muss daher ebenfalls durchdacht und sachlich begründet sein. Als Obödienz, die sich der liberalen Freimauerei verschrieben hat, genießen wir in dieser Hinsicht sogar einen sehr weiten Freiraum. Wir dürfen dabei jedoch nicht aus den Augen verlieren, dass wir der Johannismauerei verpflichtet sind, und dass keine Änderung den allgemeinen freimaurerischen Prinzipien widersprechen darf. Überspitzt formuliert würde ich sagen: Man darf als liberaler Freimaurer die Liberalität nicht so weit treiben, dass man am Ende nur mehr liberal aber nicht mehr Freimaurer ist.
    Soweit ein Ausschnitt aus meinem Text aus dem Jahr 2012. Nun möchte ich einige Gedanken anfügen, die mir für die weitere Entwicklung unserer Loge Logos wichtig erscheinen, und die sehr allgemein beginnen:
    Wie vorhin erwähnt, sind wir als liberale Freimaurer keiner übergeordneten Organisation und deren Regeln verpflichtet.
    Wir sind also frei von etwas.
    Gleichzeitig sind wir aber auch frei für etwas.
    Dieses „für“ gilt es zu definieren.
    Dieses „für“ ist individuell und ich kann es daher nicht für euch definieren. Ich lade jedoch hier und jetzt jede Schwester und jeden Bruder ein, sich zu überlegen, was für sie oder ihn liberale Freimaurerei bedeutet.
    Ich lade ein, sich zu überlegen, wie diese Grundsätze hier in der Loge und im Leben durch die Tat umzusetzen sind.
    … sich zu überlegen, wie wir gemeinsam unser maurerisches Leben besser gestalten können.
    Unsere Schwester 2. Aufseher hat vorhin erklärt, dass wir „frei von Vorurteilen am Gebäude der Menschlichkeit arbeiten“. Dieses „Gebäude der Menschlichkeit“ können wir nicht schlüsselfertig bestellen. Wir müssen es selbst bauen. Im profanen Leben braucht ein der-artiger Bau viele und ganz unterschiedliche Gewerke. Einen Architekten, der den Plan entwirft. Maurer, die den Rohbau errichten. Elektriker, die Leitungen legen und Tischler, die schöne Möbel ins fertige Haus liefern.
    Ähnlich ist es hier im Tempel. Wir haben in unseren Reihen Geschwister, die virtuos mit Zahlenkolonnen jonglieren können. Andere schmökern gerne in verstaubten Druckwerken, deren Schrifttypen heute noch kaum jemandem geläufig sind. Andere verstehen es, den Tempel für Festarbeiten prächtig zu schmücken oder seitenlange Rituale auswendig und in perfekter Diktion vorzutragen. Nicht zu vergessen sind jene Geschwister, die es verstehen, durch ihre soziale Kompetenz den inneren Zusammenhalt der Loge zu stärken. Diese Aufzählung ist nicht vollständig und die Reihung soll nicht wertend verstanden werden.
    Was ich damit sagen will lässt sich ganz kurz zusammenfassen: jede und jeder in unseren Reihen besitzt eine Kompetenz, die für die Loge wichtig ist. Dabei geht es nicht nur um die Besetzung von Logenämtern, sondern auch um kleinere Aufgaben, die wenig zeitaufwändig, aber trotzdem wichtig sind für den Zusammenhalt der Loge.
    Apropos Zusammenhalt: Wir mussten leider in den vergangenen zweieinhalb Jahren erleben, dass der Zusammenhalt durch die Corona-Pandemie auf eine harte Probe gestellt wurde. Wir
    können nur hoffen, dass auch weiterhin die Präsenzarbeiten weitgehend gefahrlos und ohne Einschränkungen möglich sein werden. Ich persönlich schließe daran die Hoffnung, dass wir in Zukunft wieder den Spirit von 2014, als wir Logos gegründet haben, wiederbeleben, und auch die entsprechenden Präsenzen verzeichnen können. Ich sehe es, gemeinsam mit dem Beamtenrat, als unsere Aufgabe an, das Logenleben so zu gestalten, dass die organisatori-schen Agenden möglichst unauffällig und reibungslos im Hintergrund ablaufen. Die inhaltliche Auseinandersetzung muss jedoch von jedem von euch mitgetragen werden. Sei es durch interessante Baustücke, in den anschließenden Diskussionen im Tempel oder auch bei den Gesprächen an der Weißen Tafel. Das lässt sich nur durch Präsenz bei den Rituellen Arbeiten erreichen. Es ist mir bewusst, dass für jeden von uns das Zeitbudget immer herausfordernder und die Aufgaben immer vielfältiger werden. Jedoch: nur gemeinsam können wir das Logenleben so gestalten, dass jeder von uns den Tempel mit dem Gefühl verlässt, es habe sich gelohnt, den Donnerstagabend in der Hofburg verbracht zu haben.
    Seit der Gründung unserer Loge Logos im April 2014 haben wir einiges erreicht. Es ist wahrscheinlich nicht übertrieben zu sagen, dass die Loge in diesen acht Jahren „ein Gesicht bekommen hat“. Wesentlich hat dazu unser neuer Tapis beigetragen, aber auch die revidierten Ritualtexte für die Rezeption und Beförderung tragen ganz wesentlich zu unserem maurerischen Erscheinungsbild bei. Inhaltlich wichtig sind mir vor allem das überarbeitete Leitbild und der neue Leitfaden für Suchendengespräche. Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang auf die vor einem Jahr erfolgte Vereinsgründung, die zur organisatorischen Konsolidierung unserer Loge beiträgt.
    Trotz dieser Fortschritte bleibt noch einiges zu tun. So wollen wir in absehbarer Zeit auch das Ritual zur Meistererhebung revidieren, ein Vorhaben, bei dem sich hoffentlich wie bei den beiden letzten Ritualdiskussionen möglichst viele Geschwister einbringen werden. Wie schon angekündigt wollen Sr. Erna und ich in Form eines „Masonischen Forums“ kurze Einführungen und Diskussionen zu ausgewählten Themen anbieten. Sie sollen in regelmäßigen Abständen vor den Rituellen Arbeiten stattfinden und somit nicht als zusätzliche Termine den Kalender belasten. Aus der Arbeitstafel habt ihr ersehen, dass in diesem Semester ein Gast-BS eines befreundeten Bruders angesetzt ist. Ich habe vor, regelmäßig Gäste aus anderen Obödienzen als Referenten einzuladen. Es kann für unsere Loge nur von Vorteil sein, wenn wir Impulse von anderen masonischen Strömungen erhalten, Besuche aus anderen Logen empfangen und selbst vermehrt Reisen unternehmen.
    Abschließend möchte ich euch an jenen Satz erinnern, den unser Bruder 1. Aufseher heute nach dem Löschen der kleinen Lichter sprechen wird:
    Stärke im Handeln
    Ich möchte ihn in abgewandelter Form als Motto über meine Zeit im Osten dieser Loge stellen:
    Stärke im gemeinsamen Handeln
    Ich habe gesprochen.