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Blick-Winkel

„Der Zirkel bildet mit dem Winkelmaß und der Bibel die großen Lichter der freimaurerischen Symbolik. Während das Winkelmaß mehr nach Vernunft und Gesetz regiert, ordnet der Zirkel – das Symbol der allumfassenden Menschenliebe – das Gefühlsleben, die seelische Einstellung zur Brüderschaft und zur Menschheit.“ So das Zitat aus dem Internationalen Freimaurerlexikon.

Soweit die Definition; so einfach und verständlich, oder auch nicht.

Der Zirkel ruht mit einer Spitze in mir und weist mit der anderen Spitze auf eine Schwester oder einen Bruder und symbolisiert somit die Nähe und die Verbundenheit. Je nach Öffnungswinkel, den ich mit dem Zirkel einstellen kann, steht mir dieser Mensch näher oder weiter entfernt gegenüber.

Ich nehme also Maß und ordne damit mich umgebende Menschen in ein Wertesystem ein.

Wie aber schaut die Beziehung aus, wenn ich kein Maß definiere. Wie verhält es sich dann mit der Einstellung zur Geschwisterlichkeit und Menschenliebe.

Ist die Liebe auch dann vorhanden, wenn ich dieser Beziehung kein solches Wertesystem zu Grunde legen kann?

Definition von Raum:

In einem dunklen Raum ohne Bezugsgrößen herrscht Ordnungs- und Orientierungslosigkeit. Ohne Raum und ohne Zeit ist ein ICH von einem DU oder einem WIR nicht unterscheidbar. Selbst wenn ICH mir über MICH klar wäre, so fehlt mir doch eine wesentliche direkte Bezugsgröße zu anderen Dingen, um das SEIN zu erklären. Ich benötige also ein Werkzeug, mit dem ich Maß nehmen kann und damit einen Bezug von Dingen zueinander einteilen kann.

Euklid von Alexandria war ein griechischer Mathematiker, der wahrscheinlich im dritten Jahrhundert vor Christus gelebt hat. Eines seiner berühmtesten Werke „Die Elemente“, ist eine Abhandlung, in der er Arithmetik und Geometrie seiner Zeit zusammenfasst. Darin sind erstmals Definitionen und darauf aufbauende Postulate enthalten und zusammengefasst, die weiter zu Axiomen (= Grundsätze oder Theorien) führen. Auch wenn er wahrscheinlich nicht Urheber aller in dem Buch enthaltener Definitionen und Erkenntnisse war, so ist es doch sein Werk, das damalige Wissen in einem Gesamtwerk zusammenzufassen und eine einheitliche akzeptierte Darstellung zu schaffen.

Ein Punkt, eine Linie, eine Ebene, ein Winkel, ein rechter Winkel, ein Abstand zweier Punkte im Raum – mit dem Lineal gemessen -, ein Algorithmus oder eine Gleichung: all das wird definiert und bildet die Grundlage des mathematischen Wissens und der Geometrie der damaligen Zeit.

Ich kann einen Raum definieren. Somit steht jeder Punkt im Raum zueinander in Relation. Durch die Schaffung von Raum ist es möglich, ein System zu etablieren, in dem jeder sich orientieren kann. Ich kann Orte definieren, ein Koordinatensystem mit einem Zentrum und definierten Grenzen. Ich kann nun mittels Zirkel einen Kreis oder eine Kugel, wenn wir Dreidimensional denken wollen, abschlagen und alle Geschwister innerhalb dieser Grenze als Einheit oder Grundgesamtheit definieren – mit gleichen Ansichten und gleicher Nähe.

Ohne Raumbezug wäre ein Treffen der Geschwister nicht möglich – wo, wann? Erst der Raum, das Abschlagen mittels Zirkel, ermöglichen es, uns zu orientieren und einander zu finden. Uns innerhalb dieser Kreisgrenze zu treffen und auszutauschen. Wir definieren diesen Raum als Grenze und geben ihm die Wertigkeit von innen und außen. „Wir arbeiten in Sicherheit“!

Dieses Abschlagen mittels Zirkel ist ein Abgrenzen gegenüber anderen. Diese Grenze zwischen innen und außen definiert nicht nur Freiheit zu etwas, sondern auch Freiheit von etwas. Wir schaffen eine Grenze, mit der wir uns von anderen bewusst unterscheiden.

Sind wir Freimauer nun Menschen, die sich dadurch bewusst ausgrenzen, obwohl uns die Menschheit doch ein wesentliches Anliegen sein soll? Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit, Toleranz und Humanität – wie verträgt sich dies mit der Schaffung bewusster Grenzen? Und wie schaut es innerhalb dieser Grenze mit den Werten zwischen den Geschwistern aus?

Der mittels Zirkel abgeschlagene Raum definiert einen exakten Rand. Treffen wir uns zu unseren Arbeiten, so stehen und sitzen wir – ausgerichtet nach Himmelsrichtungen und symbolischen Bezugsgrößen – einander gegenüber. Wir stehen in der fest verbundenen Geschwisterkette am Rande einer geschaffenen Kreisgrenze und orientieren uns zu einem Zentrum. Alle Geschwister haben denselben Abstand und doch andere Positionen. Wir sind einander und miteinander verbunden. Ausgerichtet zu einem geschaffenen Zentrum zwecks geistiger und körperlicher Konzentration.

Selbst wenn nur zwei Geschwister zusammentreffen, wird durch den Bezug dieser beiden Geschwister, durch den geschaffenen Abstand und Winkel zueinander, ein definierter Raum mit einem Zentrum geschaffen. Ein jeder von uns definiert seinen eigenen Raum, seine eigene Umlaufbahn und seine eigenen Bezugspunkte zu anderen Mitmenschen. Durch das Umherwandern auf seiner Umlaufbahn, durch das Verharren auf Schnittpunkten und Kreuzungspunkten mit anderen Umlaufbahnen anderer Geschwister, ist es möglich, verschiedene Standpunkte einzunehmen, ohne sein eigenes System verlassen zu müssen.

Wir bewahren bewusst oder unbewusst einen Abstand, ein jeder findet sich zurecht und verliert sich nicht in Raum und Zeit.

Definition von Zeit:

Durch das wiederholte und aufeinanderfolgende Abschlagen einer Größe wie dem Kreisradius auf der Kreisumlaufbahn, gelange ich stets zum Ausgangspunkt zurück. Das Wandern auf dieser Umlaufbahn mag Sinnbild unseres Lebens sein, eine stete Abfolge von Beginn und Wiederkehr zum Ausgangspunkt, wobei Anfang und Ende zwar den gleichen Ort haben, doch unterschiedliche Zeiten aufweisen.

Der Umfang des Kreises ist definiert als 2r π bzw. Φ π oder anders ausgedrückt, ergibt sich durch eine exakte Größe des Radius – ein nicht exakter Umfang des Kreises mit unendlich vielen Nachkommastellen, so als würde uns der Kreis die Unendlichkeit des Seins vor Augen halten, der steten Bewegung auf der Umlaufbahn und steten Wiederkehr zum Ausgangspunkt.

Durch das Abschreiten und Wiederkehren definiert sich ein Anfang und ein Ende, und ich vermag diese Zeit einzuteilen, Halbzeiten zu bestimmen und schaffe damit ein Koordinatensystem sowohl für Raum und Zeit. Ich beginne die Arbeit zu Hochmittag und beende sie zu Hochmitternacht. Wodurch ich wieder gleich lange Zeit außerhalb dieser Arbeit zur Verfügung habe, bevor wieder Hochmittag kommt.

Der Kreis wurde nun in zwei Hälften unterteilt. Erst diese Unterteilung führt nun zur Auseinandersetzung von Gegensätzlichem wie Tag-Nacht, hell-dunkel, männlich-weiblich, gut-böse, lebendig-tod, fest-flüssig, warm-kalt und so fort.

Durch diese neue Größe vermag ich die Wertigkeit der Einheit neu aufzuteilen und zu vergleichen.

Der Kreis unterteilt in zwei Hälften, die ineinander übergehen und stetes miteinander verbunden sind. Wie die Abfolge des rechten Schrittes auf den Linken, um mich fortzubewegen, so folgt auf den Tag die Nacht, auf die Arbeit die Ruhe, auf den Tod die Wiedergeburt.

Schlägt man den Radius eines Kreises entlang seiner Kreisbahn ab, so erhält man 6 bzw. 2 x 3 Schnittpunkte, bevor man wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Verbindet man die Schnittpunkte, die durch den rechten Schenkel entstanden, miteinander und jene, die mit dem linken Schenkel entstanden sind, so erhalten wir zwei gegengleiche Dreiecke, die auch als das Siegel Salomons bezeichnet werden.

„Die sind die Schlangen und Drachen, welche die alten Ägypter in Gestalt eines Zirkel gemalet, da der Kopf in den Schwanz beißt, um dadurch zu lehren, dass sie von und aus Dingen entsprossen, welches allein und für sich selbst genug sei, dass es in seiner Rundierung und Zirkulation sich vollkommen mache.“ Zitat: Nicolas Flamel – Buch der Hieroglyphischen Figuren (Nicolas Flamel – *1330 – † 1413 – franz. Schriftsteller und Alchemist).

Zwei Drachen, die sich in den Schwanz beißen, einer unbeflügelt als das Fixe und Beständige, der andere beflügelt als das Flüchtige und Unbeständige, die sich gegenseitig verzehren, als Symbol der schöpferischen Zeugung.

Anmerkung meinerseits: Stets in der Rechtsrotation, also im Sonnenlauf!

Neben den zwei Hälften oder zwei Standpunkten gibt es noch die Mitte und den Raum dazwischen. Ich vermag einen Anfang, eine Mitte und ein Ende auszumachen oder zeitlich gesehen eine Vergangenheit, eine Gegenwart und eine Zukunft.

Wie im Dreieck, dass durch den dritten Punkt eine neue Position erlaubt, welche es versteht, zwei Gegensätze zu vereinen und zu verbinden und somit eine neue Einheit formt. Aus These und Antithese entsteht die Synthese.

Die Baumeister verstanden es bereits, dass die Verbindung zweier Punkte statisch besser durch einen Bogen als durch eine Gerade zu erfolgen hat. Während sich eine Gerade unter Einwirkung von äußeren Kräften durchbiegt und somit zu einer Ablenkung der beiden Standpunkte zueinander hinführt, wodurch der Abstand der Punkte verringert wird, ermöglicht der Bogen die Ableitung der Kräfte entlang des Bogens selbst und führt zu einer Ausdehnung des Kreissegments nach außen, so als möchte er Raum schaffen für Neues.

Basierend auf dieser Erkenntnis, dass nun ein jeder von uns seinen eigenen Raum, seine eigene Umlaufbahn hat, unsere Umlaufbahnen einander überlagern und kreuzen, so können wir Schnittpunkte definieren, an denen wir den gleichen Standpunkt einnehmen und doch unterschiedliche Perspektiven haben können.

Wie die Geschwisterkette, in der jeder von uns miteinander verbunden ist auf einer vollkommenen geometrischen Figur. Würde man an jedem Punkt der Kreisbahn nun eine Tangente anlegen, also eine Gerade, die den Kreis nur an einem Punkt berührt, erkennt man, dass ein jeder von uns im rechten Winkle zum Mittelpunkt steht und doch haben wir unterschiedliche Positionen. Und durch das Fortschreiten, die Rotation ist es uns möglich, andere Standpunkte einzunehmen unter Wahrung der Distanz zueinander und in Bezug zum Zentrum als Vollkommenheit.

Es lässt uns aber auch durch das Abschreiten des Kreises auf unseren beiden Säulen, als Metapher einer anderen Bezugsgröße, die Möglichkeit der Sichtweise auf das Innen und Außen, auf das Vollkommene und das Menschliche möglich werden.

Neben dem Zirkel ist aber auch das Winkelmaß von entscheidender Bedeutung. Es ist Symbol für die Gewissenhaftigkeit, dass unser Handeln nach Recht und Gerechtigkeit erfolge. Es wird angelegt an die menschlichen Handlungen, auf dass sie erkannt werden als frei von Eigennutz, getrieben vom inneren Drang, ohne äußeren Zwang, in voller Erkenntnis des Rechten und Pflichtgemäßigem – so das Zitat aus dem Internationalen Freimaurerlexikon.

Die beiden großen Lichter „Zirkel und Winkelmaß“ liegen auf dem dritten großen Licht, der Bibel im Osten der Loge beim Meister vom Stuhl.

Der Zirkel liegt mit den Schenkeln geöffnet nach Westen und das Winkelmaß offen nach Osten. In der Darstellung dieser Symbole werden diese auch so angeordnet, mit dem Zirkel oben und dem Winkelmaß unten bzw. dem geistig Spirituellen – dem Himmel -, dem Weiblichen oben bzw. dem Menschlichen – dem Männlichen -, dem Irdischen unten.

Auch sind diese Symbole sehr schön in unserem Logenlogo zu erkennen mit einem Kreis der alles umrandet, der beides eint und als Einheit steht für den Kosmos, in dem jede Vielheit enthalten ist.

Der Zirkel als mächtiges Werkzeug, Maß zu nehmen, Raum und Zeit zu definieren, Größen zu übertragen und Bezüge herzustellen. Als Mahnung der Unendlichkeit und Toleranz und Humanität. Mit seinen Armen, die mich mit den Geschwistern verbinden, das Zentrum der Vollkommenheit erkennen lässt, Grenzen aufzeigt und mich davor bewahrt, grenzenlos zu agieren und mich zu verlieren.

Durch diese Erkenntnis der symbolischen und auch physischen Verbundenheit, der Definitionen von Raum und Zeit, von innen und außen, von Freiheit und Verbundenheit, die Schaffung von notwendigen Abgrenzungen, eines Zentrums der Erkenntnis und des Lichts, vermag ein jeder von uns, einer Schwingung gleich, sei es Ton oder Licht, mit einer Abfolge von hell und dunkel und/oder einer Schwingung positiv und negativ, von einem Zentrum ausgehend, diese Grenze zu durchbrechen, und damit unendlich weit den Raum zu erhellen, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, von Hochmittag bis Hochmitternacht, vom Zenit bis zum Nadir – allumfassend, wie herinnen durch das Wort, draußen durch die Tat.

Der Zirkel mahnt aber auch zur Bescheidenheit. Wie der Umfang im Verhältnis zum Durchmesser ungenau ist, ist die Sichtweise der Verheißung einer Entschlüsselung geheimer Codes und verlorener Symbole als Mittelpunkt des freimaurerischen Rituals ungenügend.

Damit die Werte eines gleichermaßen auf Herkunft wie Zukunft bezogenen Humanismus im Bewusstsein der Menschen heutzutage präsent sind, müssen sie auch vermittelt werden. Hierzu bedarf es eines individuellen und gemeinsamen Nachdenkens – Zitat: „Die völkische Freimaurerei in Deutschland und wie man sich nach 1945 an sie erinnert“ – Hans-Hermann Höhmann, Leipzig 2014.

Deshalb bedarf es zur Sicherung humaner Lebenswelten NICHTS so sehr wie die Menschen – einzeln und in verschiedenen Gruppen – kooperativ zusammen zu binden oder wie Friedrich Schiller sagte: „Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raum stoßen sich die Sachen“.

Die Freimaurerei will ein Freundschaftsbund sein, der über alle weltanschaulichen, politischen nationalen und sozialen Grenzen hinweg Menschen miteinander verbindet. Wir Freimaurer folgen damit der speziellen Tradition, Trennendes zu überwinden, Gegensätze abzubauen, Verständigung und Verständnis zu fördern sowie Menschen zu verbinden.

Wir befinden uns aber auch an der Schnittstelle zwischen Freimaurerei und Gesellschaft. Wir streben nach Wahrheit, Toleranz und Geschwisterlichkeit. Wir grenzen uns bewusst ab, um in Sicherheit, in einem vertrauten sich wiederholenden Ritual zu arbeiten. Ein jeder bearbeitet seinen Stein, folgt seiner Umlaufbahn und toleriert Fremdes. Wir suchen nach Wahrheit durch das Nachdenken über die in den Ritualen und Symbolen verborgenen Lehren.

Erst durch diese Gegebenheiten, diese Handlungen vermag ich mein Leben zu ordnen und zu bestreiten.  Es ist Basis des Miteinander innerhalb der Geschwisterkette und Grundlage für mein Handeln in der profanen Welt.

Und so setze ich erneut meinen Zirkel an, gegründet in meinem Herzen, und vollführe einen Zirkelschlag ohne Ausgrenzung, aber mit Abgrenzung, leiser nur und bewusster doch.

Der Blick-Winkel, ein Erkenne dich selbst als Werkstück über den Zirkel.

Mit Aug‘ und Ohr – also die Hofburg zu Wien

Erst als wir ihn nicht mehr gehabt hatten, unseren Tempel in der Hofburg, ist uns bewusst geworden, was für uns, die Geschwisterkette, Heimat auch bedeuten kann.

Freimaurerisch kann man ja überall arbeiten – mit der Arbeit im Tempel ist es aber niemals zu vergleichen. Als im Winter des letzten Jahres die große Flut buchstäblich über unserem Tempel ausgebrochen war und wir so gastlichen Unterschlupf bei unserer Geschwisterloge gefunden hatten, sind wir sehr dankbar gewesen aber doch haben wir gespürt, was es bedeutet, quasi „heimatlos“ zu sein. Einige Monate später waren wir wieder daheim hier in der Hofburg, hier in diesem Raum, in unserem Tempel.

UND es ist wunderbar.

UND wir haben ein Dach über dem Kopf – wir haben sogar ziemlich viel Dach über unseren Köpfen, 210.000m2 das entspricht ziemlich genau 25 Fußballfeldern.

So entstand mein Wunsch, diesen Ort, den Raum, den Bau und seine Geschichte zu erzählen.

Alle kennen wir sie, die Wiener Hofburg. Aber wissen wir, wie sie eigentlich entstanden, gewachsen ist?

Erinnern wir uns an ihre historische, kulturgeschichtliche und politische Bedeutung?

Mit  Aug’und Ohr will ich mich mit euch auf eine Reise durch 700 Jahre begeben, beginnend mit dem  Mittelalter als im 13. Jahrhundert  mit dem Bau dieser befestigten Wehranlage, der „Alten Burg“, begonnen worden war.

Die gotische Burg war eine sehr einfache Anlage: ein von vier Türmen beschütztes und von drei Trakten umgebenes Geviert mit hölzernen Wehrgängen an der Innenseite und einer einfachen Einfahrt. Der Radbrunnen im Hof versorgte die Bewohner mit Wasser, daneben befanden sich freistehende Stallgebäude und hölzerne Wirtschaftschuppen. Bessere Holzdecken und schönere Täfelungen gab es nur in den Prunkzimmern. Die Habsburger Herzöge erweiterten ihre Residenz ständig mit zusätzlichen Bauten, wie einem Tanzsaal und einer Burgkapelle mit angeschlossener Schatzkammer, in der die wertvollen Kleinodien aufbewahrt wurden. Ein wichtiger Bauteil war der außergewöhnlich massige Widmertorturm, in dem Rudolf, der Stifter, an der Stätte seiner Geburt, eine Allerheiligenkapelle stiftete, aus der das Domkapitel von St Stephan hervorging. Auch die Gründung der „Alma Mater Rudolfina“, der Wiener Universität im Jahre 1365 ist diesem ehrgeizigen und diplomatischen Habsburger zu verdanken. Höchst zielstrebig gelang ihm auch die Erwerbung von Tirol, ein politischer Erfolg von größter Tragweite.

Die mittelalterliche Burganlage ist in ihrem Kernstück bis heute erhalten, nur die 4 Ecktürme, der größte Teil des Burggrabens und die Zugbrücke mussten im Lauf der Zeit den Neuerungen weichen.

Wenn auch die Alte Burg für die Habsburger nicht unbedingt die bedeutendste Residenz gewesen ist – sie saßen ja meist im Sattel zur Visitation und Verteidigung  ihrer Herrschaftsbereiche – so waren die Eroberungen der östlichen Gebiete des Reiches durch den ungarischen König Matthias Corvinus, der mit seiner Gattin Beatrix in der  Wiener Hofburg Quartier nahm, für den zögernden Kaiser Friedrich III. ein großes Problem. Als aber dann der kränkliche Ungarnkönig 1490 in der Wiener Burg starb, besetzte sein Sohn Maximilian I. sogleich Stadt und Burg. Er ließ umfassende Ausbesserungen durchführen, z.B. wurde der Innenhof gepflastert, für damalige Verhältnisse eine ungeheuere Neuerung, das große Vogelhaus erneuert und für seine persönliche Bequemlichkeit ein Zimmer ausgestattet. Besonderes Augenmerk wurde auf die Wehranlagen gelegt. Denn noch sehr gut konnte sich Maximilian an seine frühe Kindheit erinnern, als er mit Vater und Mutter von einem wütenden, aufgehetzten Wiener Pöbel tagelang in der Burg belagert worden war.

Ein einschneidendes Ereignis ergab sich für den alternden Kaiser Maximilian I. im Jahr 1515 als es in Wien zu Verhandlungen und persönlichen Zusammenkünften dreier mitteleuropäischer Herrscher kam.

Maximilian I. gilt als erfolgreichster Anwender seiner Heiratspolitik.

Seit längerem hatte er schon versucht, die erworbenen Rechte auf die Erbfolge in Ungarn nicht allein politisch zu sichern. Seine Enkelkinder, Karl, Ferdinand und Maria waren zwar noch jung, er aber plante deren Leben bereits weit in die Zukunft, folgend seinem Motto:

Bella garant alii, tu felix Austria nube

Andere mögen Kriege führen, Du glückliches Österreich heirate!

So lag es Nahe, die gefährdeten Ansprüche durch familiäre Bindungen

zu festigen. Nach langwierigen Verhandlungen einigte man sich auf Wien und die Alte Burg als Ort des Zusammentreffens.

Unter größter Prunkentfaltung erfolgte am 17. Juli 1515 der feierliche Einzug der Herrscher und ihres Gefolges. König Wladislaw von Ungarn und Böhmen erschien mit seinem Sohn Lajos/Ludwig und seiner Tochter Anna, sein jüngerer Bruder König Sigismund von Polen mit seiner Gattin Barbara. Es war ein unbeschreibliches Spektakel mit Pauken und Trompeten, als der Zug der Gäste auf das große Turnierfeld vor der Burg – dem heutigen Inneren Burghof –  zog, um dort empfangen zu werden. Eigens hatte der Hofkomponist Heinrich Isaasc seine Musiker aufspielen lassen und das hat dann wohl so geklungen:

HEINRICH ISAAC:  FANFARE Ensemble Jordi Savall

Und zwei Tage darauf eröffnete Kaiser Maximilian I. mit einer fast einstündigen Rede in der Burg den Kongress. Die schwierigen Beratungen dauerten 4 lange Tage. In dieser Zeit herrschte überall ungetrübte Feststimmung. Turniere, Theateraufführungen und Tanzveranstaltungen – im großen Tanzsaal in der Burg – wechselten in bunter Folge und für alle gab es genug zu staunen.

Schlussendlich wurde im Stephandom am 22. Juli mit großem Pomp die Doppelvermählung der beiden Fürstengeschlechter vollzogen, wobei dem  Prinzen Ludwig von Ungarn Erzherzogin Maria angetraut wurde, Kaiser Maximilian aber für einen seiner Enkelsöhne – es stand noch nicht fest, für welchen – der ungarischen Prinzessin Anna die Ehe gelobte.

Anna schließlich wurde mit dem jüngeren Enkel, dem späteren Kaiser Ferdinand I., verheiratet. Es war eine glückliche und kinderreiche Verbindung: 10 Mädchen und 3 Buben wurden geboren, wovon Maximilian II. später Nachfolger seines Vaters, Kaiser Ferdinand I. geworden ist.

 Die beiden Königreiche Ungarn und Böhmen blieben trotz mancherlei Schwierigkeiten bis 1918 Erblande der Habsburger – so lang kann’s dauern!

Aber zurück zu unserer Hofburg.

Einschneidende Veränderungen ergaben sich, als Ferdinand, Enkel Kaiser Maximilians, von Spanien nach Österreich gesandt wurde, um hier sein großväterliches Erbe anzutreten. Er war in Madrid erzogen worden, kannte unsere Sprache und Bräuche nicht und mag vielleicht entsetzt gewesen sein, die engen, unansehnlichen Gemäuer der Wiener Burg bewohnen zu müssen. Seinen spanischen Einfluss kann man heute noch nachvollziehen, wenn wir an das Spanische Hofzeremoniell des Wiener Hofes bis ins späte 19. Jahrhundert denken oder wenn wir in den Prado gehen aus dem die Wiener den Prater gemacht haben, ebenso wenn wir demnächst in die ersten gelben Früchte, die Marillen, beißen werden.

Und er entschied sich, hier seine Residenz aufzuschlagen:

Aus einer Schrift von Casimir Frescho: Memoirese de la Cour de Vienne.

„Die alte Burg ist erbärmlich. Ihre Mauern haben eine Dicke wie jene der stärksten Wälle; die Treppen sind armselig und ohne Zierde; die Gemächer niedrich und enge mit Decken von gemalter Leinwand ; die Fußböden aus Brettern von Tannenholz wie in dem mindesten Bürgerhause: kurz alles so einfach, als ob es für Mönche erbaut wäre. Dem ist noch hinzuzufügen, dass statt irgendeines Garten nur ein kleiner umschlossener Raum unter den Fenstern der Kaiserin vorhanden ist, in welchem man einige Blumen pflanzt und ein wenig Grün unterhält.“

1529, nach der glücklich abgewehrten Türkengefahr, beschloss er, die Stadt zu einer uneinnehmbaren Festung auszubauen. Zunächst mussten die Schäden an den verschiedenen Gebäuden beseitigt werden.

Ferdinand I., ein Freund der Blumen und Tiere, ließ auch gleichzeitig zu seiner Erholung den im Bereich der heutigen Winterreitschule gelegenen oberen und unteren Lustgarten mit einer Treppenanlage verbinden und im unteren Garten ein neues Ballhaus erbauen. Zur Erinnerung an die Entstehung wurde beim Eingang eine Wappentafel angebracht, die dann, im 18. Jahrhundert an die Nordseite in die Nähe des Burggrabens übertragen worden ist, wo wir sie heute noch sehen können. (Innerer Burghof )

Trotz intensiver Bautätigkeit herrschte in der Burg weiterhin großer Raummangel. Als Erzherzog Ferdinand und Herzogin Katharina von Mantua – eine Tochter Ferdinands – in Wien zu Besuch waren, mussten im Salmschen Haus, auf den Gründen des heutigen Palais Pallavicini, einige Zimmer  für sie eingerichtet werden, weil in der Residenz keine geeigneten Räume zur Verfügung standen.

So entschloss sich der Landesfürst für seine übrigen Kinder auf der Burgbastei in Verlängerung des Westturmes ein neues Gebäude aufführen zu lassen. Es handelt sich um einen dreigeschossigen, schmalen Baukörper, den Teil über der heutigen Durchfahrt vom Platz „In der Burg“ auf den Heldenplatz.

Die nächsten Bauprojekte bringen gewaltige Veränderungen.

Das Gelände südlich der Alten Burg – der heutige Josefsplatz – wurde seit 1565 als Roß –Thumblplatz benützt und dort ein erstes Reitschulgebäude geschaffen. In der Einganshalle der Nationalbibliothek kann man im Geiste noch heute das lebhafte Getrappel der Spanischen Pferde hören. 

 Und es ließ sich Maximilian II. außerhalb des Burgareals eine neue Residenz, die „Neue Burg, erbauen. Später wurde der Bau in das Neues Hofstallgebäude umgewandelt. Unter Kaiser Karl VI., dem Vater von Maria Theresia, verwendete man das Gebäude als Heimstatt der Spanischen Hofreitschule und das ist es bis heute geblieben.

Der Platzmangel in der Alten Burg stieg weiter dramatisch an. Die Lösung die sich anbot war ein Neubau gegenüber der Alten Burg, ohne dabei den weitläufigen Turnierplatz zwischen den beiden Komplexen zu verlieren. Die Neue Burg, später Amalienburg genannt, sollte den repräsentativen Abschluss des Turnierplatzes bilden. An den drei ungewöhnlichen Uhren – einer astronomischen, einer Sonnenuhr und einer Normaluhr, unter dem barocken Türmchen lässt sich dieser Bau leicht erkennen.

Maximilian war mittlerweile in die Alte Burg übersiedelt und hatte Erzherzog Ernst, seinem zweitgeborenen Sohn die Amalienburg jetzt als „Neue Burg“ benannt als Wohnsitz überlassen.

Maximilian selber sammelte mit Leidenschaft Kunstwerke und förderte in großzügiger und vielseitiger Weise die zeitgenössischen Künste und Wissenschaften. Auch haben wir ihm die Gründung der Spanischen Hofreitschule in Lippizza zu verdanken. Für seine großen Bauvorhaben suchte er tüchtige italienische Architekten zu gewinnen: der kaiserliche Gesandte in Venedig unterhandelte unter anderem mit Palladio. Doch infolge des Kaisers kurz beschiedenen Regierungszeit blieben seine Pläne weitgehend unvollendet. Außer der Stallburg und Amalienburg sei aber noch das „Neugebäude“, ein mit allen Raffinessen ausgestatteter Renaissancelandsitz in Kaiser-Ebersdorf bei Wien genannt. Maria Theresia verwendeten 200 Jahre später diesen für sie nutzlosen Bau als Munitionsdepot und entschied, dass die wunderbar wertvollen Marmorsäulen aus dem Renaissancepalast zum Verbau der Gloriette am Schönbrunner Berg verwendet werden sollten.

Die bauliche Gesamterscheinung der Hofburg im 16. und 17. Jahrhundert wird einige Male mit wenig schmeichelhaften Worten geschildert:

Dieser Palast ist so hässlich wie nur irgendeines der Häuser in der Rue des Lombardes zu Paris. Ein Tor, aus Brettern wie zu einer Scheune; an demselben nur auf einer Seite ein kleines Pförtchen; ein Hofraum so engen, dass sich in ihm mit einer Kutsche ohne Schwanenhals gar nicht umkehren lässt:“

Hier wird über die Einfahrt durch das berühmte Schweizertor gerügt.

Diese sicherlich zutreffenden Urteile lassen sich leicht erklären. Die Hofburg lag seit jeher in unmittelbarer Nähe der Stadtmauer, bildete sogar zum Teil die Befestigungen. Angesichts der ständigen Bedrohung durch die Türken gewann der befestigte Charakter immer mehr an Bedeutung.

Unter den drei Kaisern des 17. Jahrhunderts, jeweils Ferdinand genannt, sind an der Hofburg wenige Veränderungen vorgenommen worden. Bedingt durch Kriegs- und Notzeiten – wir schreiben den 30 jährigen Krieg – wurden nur die allernotwendigsten Verbesserungen bzw. Verstärkungen an den Bastionen und Befestigungswerken energisch in Angriff genommen.

Die 1531 errichtete Burgbastion – der so genannte Spanier – war bisher nicht viel als ein gemauerter Zwinger, der unter Ks. Ferdinand II. zu einem gewaltigen Erdwerk ausgebaut wurde. Erst unter Kaiser Leopold I. hatte man die Bastion mit Ziegelmauerwerk verkleidet und an der Farce des endlich vollendeten gewaltigen Bollwerks den kaiserliche Adler angebracht.

LEOPOLDUS ROM.IMP.GERM.HUNG.BOHEM.ZC.REX

REX ARCHIDUX AUSTR.PROPUGNACVLUM HOC

MURO OBDUCI.CURAVITANNO M.D.CLIX. 1659

Wie aber konnte man die Residenzstadt auf diese Seite verlassen?

Die Verbindung aus der Stadt führte durch das Widmertor neben der Burg in den „Spanier“, eine mächtigen  Mauerspitze, und aus diesem durch eine den Wall durchstoßende gekrümmte Durchfahrt auf die eigentliche Bastion; dann lief die Verbindung weiter hinter deren Wall und danach unter diesem hindurch, abermals sich wendend, auf einer langen hölzernen Brücke zwischen Bastion und Ravelin über den Stadtgraben in den gedeckten Weg und weiter gegen das freie Land.

Du das war der heutige Heldenplatz und die Querung der Ringstraße, die ich euch soeben beschrieben habe- man glaubt es kaum!

Mit dem Regierungsantritt von Kaiser Leopold I. machten sich bereits die neuen Kunst- und Bildungsideale des Barockzeitalters bemerkbar.

Die Neigung zur Errichtung monumentaler Bauwerke kündigte sich bei diesem sprachbegabten, gebildeten und musikalischen Monarchen schon früh an, wenngleich Geldmangel und die schwierigen Zeitläufte die volle Entfaltung behinderten. Einen Entschluss fasste Leopold dennoch im Jahre 1660. Es sollte zwischen dem seinerzeit für die Kinder Ferdinands I errichteten Trakt beim Widmerturm und der Amalienburg anstelle der alten Stadtmauer ein stattlicher Neubau entstehen. Die von Philibert Lucchese ausgearbeiteten Pläne fanden die Zustimmung des Kaisers, die Ausarbeitungen wurden den ebenfalls aus Italien stammenden Baumeistern Martino und Domenico Carlone übertragen. Bereits 7 Jahre später konnte zu Jahresende die Kaiserinwitwe Eleonora von Mantua mit ihrem Hofstaat und der Kaiser selbst den Neubau beziehen. (Dazu fällt mir das Krankenhaus Nord ein). Nur 2 Monate später brach ein gewaltiger Brand aus, der ganze Trakt wurde ein Raub der Flammen, brannte vollständig aus und stürzte ein. Die als wunderbar angesehen Rettung einer Kreuzpartikel aus der Kammerkapelle bildete den Anlass zur Gründung des Sternkreuzordens durch Eleonore von Mantua.

Leopold gab sofort den Auftrag, den Trakt wieder zu errichten, diesmal etwas breiter und länger als den ersten. Die Arbeiten gingen nicht so flott voran, wie es der Kaiser gerne gesehen hätte – es fehlte an Geld. Erst 1681 wollte man den Leopoldinischen Takt wieder beziehen, musste aber feststellen, dass weder Türen noch Öfen vorhanden waren…..

Die Ursache des Brandens wurde übrigens von Wiener Bürgern der jüdischen Gemeinde zugeschrieben, es kam zu tätlichen Angriffen und brutalen Zerstörungen.

Anlässlich seiner Vermählung mit der spanischen Infantin Margarita Teresa  (die wunderbaren Gemälde von Diego Velasques kann man im Kunsthistorischen Museum bewundern) ließ im Südwesten der Hofburg dieser musikalische Kaiser durch den begnadeten Architekten Lodovico Burnacini ein neues, hölzernes drei Ränge hohes Opernhaus mit einem Fassungsraum für 5000 Personen auf der „Cortina – der Stadtmauer – im Bereich des heutigen Burggartens errichten. Zum Vergleich: Die Wiener Staatsoper hat einen Fassungsraum vom ca.2100 Besuchern, Stehplätze mitgerechnet.

Die nächsten Jahre sahen keine größeren Bauten im Bereich der Hofburg. Dem Schloss Schönbrunn und der Favorita galt das Hauptinteresse der Habsburger.

1683 – die Befreiung Wiens und die Siege Prinz Eugens in Ost und West ermöglichten Österreich den Aufstieg zur Weltmacht.

Erst jetzt waren die politischen Voraussetzungen auch gegeben, aus der Hofburg – bisher mehr Festung als kaiserliche Residenz – den Palast eines großen Herrschers zu machen. Offenbar hatte sich schon Kaiser Leopold in seinen letzten Jahren mit solchen Absichten getragen. Sein Sohn und Nachfolger Josef I., der Johann Bernhard Fischer von Erlach zu seinen Lehrern zählte, hatte vermutlich ebenso große Pläne, die durch seinen plötzlichen Tod nicht realisiert werden konnten.

Sein Bruder Kaiser Karl VI. verkörpert den typischen barocken Bauherren und Mäzen. Er verlieh dem Begriff der Majestät besondere Bedeutung und so kam es zu einer nie da gewesenen Prunkentfaltung.

Der letzte Spross der Habsburger ließ sich die Förderung der Architektur als äußeres Zeichen der Macht und des Triumphes besonders angelegen sein.

G.F.HÄNDEL: LA REJOUISSANCE aus der Feuerwerksmusik

Hochbegabte Künstler standen ihm zur Durchführung zur Seite. Gleich nach Karls Ankunft aus Spaniern erhielt 1712 Lukas von Hildebrandt den Auftrag, den Torbau zwischen dem Kohlmarkt und Innerem Burghof zu einer monumentalen Triumphpforte umzugestalten. Der neue Torbau hatte drei Durchgänge und war mit figuralen Reliefs und Trophäen geschmückt. Dieses Bauwerk musste allerdings schon 1728 der neuen Reichskanzlei weichen.

Den umfangreichen Plänen von Lucas von Hildebrandt zur gesamten Umgestaltung der Hofburg wären die ältesten und größten Teilen Neubauten zum Opfer gefallen. Geldmangel hat diese großzügigen Pläne allerdings nicht zur Ausführung gelangen lassen.

Letztendlich hat der jüngere Fischer von Erlach seinen Entwurf ausführen können, weil es zweifellos die einheitlichste Lösung darstellt und in der Gasemtplanung nicht zu kostspielig war. Aber immer wieder blieb aus Geldmangel der Bau stecken, wurde nur halbfertig und schien manchmal einer kuriosen Ruine nicht unähnlich. Erst 1889 wurde nach manchen Fehlschlägen die Michaelerfront im Sinne von Fischer fertig gestellt. Für den Schmuck der Portale schuf der Venezianische Hofbildhauer Lorenzo Mattielli vier überlebensgroße Gruppen des Herakles, die auch heute noch die Durchgänge des Inneren Burghofes zum Michaelerplatz flankieren.

Zu den bedeutendsten Leistungen unter Karl VI. zählt allerdings die Erbauung der Hofbibliothek. In der Vergangenheit waren die reichen Bestände oft übersiedelt worden, manchmal unter misslichsten Verhältnissen gelagert. Schon Kaiser Leopold hatte sich Gedanken zur Unterbringung der Sammlung gemacht. Sie sollte im Obergeschoss der Reitschule untergebracht werden. Für Kaiser Karl war das keine Option, er gab Auftrag, neue, zeitgemäße Pläne vorzulegen.

Als Johann Bernhard Fischer von Erlach seine Pläne vorlegte, fand er die Zustimmung des Kaisers und es konnte mit dem eleganten Bau begonnen werden. Die malerische Ausschmückung führte Daniel Gran durch. Im Prunkraum der heutigen Nationalbibliothek befinden sich an die 120.000 Folianten, darunter die fast vollständige 1500 Bände umfassende Sammlung des Prinzen Eugen von Savoyen, die nach seinem Tod vom Kaiser angekauft worden war.

Auf Kaiser Karl geht noch ein drittes Bauwerk zurück, die Winterreitschule. Auf einem 1725 datierten Projekt für die gesamte Hofburg findet sich eine urkundliche Notiz von dem jüngeren Fischer, dass er den Auftrag habe, eine neue Reitschule zu bauen. Diese Arbeit dauerte 5 Jahre, es wurde der gewaltige Dachstuhl aufgesetzt, den man im Rahmen einer Führung durch die Spanische Reitschule begehen kann.

Das alte Ballhaus am Michaelerplatz war in ein Theater umgewandelt worden und als Ersatz für das aufgegebene Ballhaus wurde ein neues am Ende der Schauflergasse errichtet, das bis 1903 bestand und dem Ballhauspplatz seinen Namen gab. Das unter Josef I, errichtete Opernhaus am Tummelplatz/ Josefsplatz wurde in die Redoutensäle integriert und schon 1748 fand dort der erste Maskenball statt.

Über Verordnung von Maria Theresia wurde eine Apotheke erworben und in die Stallburg verlegt, wo sie bis vor einigen Jahren noch treue Dienste versehen hat, danach zu einem Lipizzanermuseum umfunktioniert wurde das wenig rentabel war und heute bekommt man dort finger food und coffe to go, gleich neben den Pferden.

Die Regierungszeit von Kaiser Franz I. Stefan von Lothringen und der Königin von Ungarn und Böhmen Maria Theresia zeigen in der Hofburg nur geringe Bauvorhaben wie Erneuerungen, und Ausbesserungen. Beider Interesse lag im Ausbau der zukünftigen offiziellen Sommerresidenz Schloss Schönbrunn. Zu erwähnen ist da der Bau der Gloriette am Schönbrunner Berg, den die Königin anläßlich ihres militärischen Sieges über die preussischen Truppen und ihren verhassten Erzfeind Friedrich II., den Großen als Ausdruck der Glorie des Hauses Habsburg- Lothringen errichten ließ.

Franz Stefan ist nicht so sehr als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation hervorgegangen als viel mehr als der geschäftstüchtigste Kaiser der Dynastie. Er gründete Manufakturen und belieferte die preußische Armee mit Waffen, als diese gegen seine Frau kämpfte. Bei seinem Tod 1765 hinterließ er Maria Theresia ein Vermögen von, nach heutigem Kaufwert, ca., 72 Mio. – nicht schlecht!

Einen Teil, nämlich 12 Mio. verwendete sie für die Tilgung der Staatschulden, mit nochmals 6 Mio. € gründete sie den Familienversorgungsfonds, der bis 1919 bestanden hat, Privatvermögen waren davon ausgenommen.

 Und  Kaiser Josef II., der Sohn?

Als Mann der Aufklärung hatte er keinerlei Verständnis für Prunk und Pomp. Sein Interesse lag bei den Reformen des täglichen Lebens im Sinne der Aufklärung ähnlich dem  deutschen König Friedrich, mit dem er befreundet war; sehr zum Verdruss von Maria Theresia, die den „schlechten Einfluss“ auf ihren Sohn fürchtete. Allerdings zeigte Josef großes Interesse an der Änderung des Burgtheaters in eine nationale Bühne in der ausschließlich Werke von deutschsprachigen Autoren und Musikern aufgeführt werden sollten.

Der Erfolg ließ allerdings zu wünschen übrig und so ging man im Laufe der Zeit wieder zur gemischten Programmgestaltung über – Haydn, Mozart, nur ganz wenig Salieri. Mit dem Tod Josefs und der sehr kurzen Regierungszeit seines Bruders Leopold II. war der aufklärerische und sehr wirtschaftliche Erfolg des Landes beendet, Kaiser Franz II., dessen Tante Marie Antoinette in Paris am Schafott hingerichtet worden war, hegte große Ängste, dass die freiheitlichen Ideen der Französischen Revolution in sein Reich eindringen würden. So entstand unter Mitwirkung des klugen, genialen aber machtgierigen Kanzlers Fürst Metternich ein Polizeistaat in dem freie Rede und Versammlungsfreiheit höchst gefährlich geworden waren. Die Menschen reagierten darauf mit besonders gemütlichen und bequemen Wohnungseinrichtungen, mit geselligen Abendveranstaltungen im kleinen Kreis der eigenen 4 Wände. Selbst in der Wiener Hofburg fand der neue Stil seinen Platz, alles wurde biedermeierlich.

Napoleon, der 1805 Wien besetzt hatte, mag verwundert gewesen sein über die bequeme Einfachheit; denn in seinem Reich war eine andere großzügigere Moderichtung vorherrschend – das Empire. Besonders deutlich sieht man das auf einem Gemälde in der Wiener Schatzkammer: Kaiserin Marie- Luise im Hochzeitskleid anlässlich ihrer Vermählung mit Kaiser Napoleon in Paris.

Eine zweite Besetzung Wiens durch die Franzosen brachte bei deren Abzug erhebliche Schäden an der Burgbastion, die von den Truppen auf Anordnung des Französischen Kaisers gesprengt worden waren.

Schon in der Vergangenheit hatte man immer wieder Pläne zu einer größeren Stadterweiterung erwogen. Nach dieser Sprengung wurden neuerliche Überlegungen angestellt. Aber noch war es nicht so weit.

 Napoleons Bonaparte, der nach seinem desaströsen Russlandfeldzug und der verlorenen Völkerschlacht bei Leipzig abdanken musste, wurde in die Verbannung nach Elba geschickt.

Unter der klugen und staatsmännischen Leitung des Kanzlers Fürst Metternich kamen alle Potentaten nach Wien, um an einem „runden Tisch“ – er war eigentlich gar nicht rund – über eine Neuaufteilung Europas zu verhandeln.

In der Burg selber wohnten als Gäste des stets anwesende Hausherr Kaiser Franz, Zar Alexander von Russland, der sich in erste Linie in Wien mit der Weiblichkeit vergnügte, ferner der vornehme und würdevolle König Wilhelm von Preußen, der im Volk bald beliebte König Frederik VI. von Dänemark und der als grob verschrienen König Friedrich von Württemberg.

Der Auftakt zum berühmten Wiener Kongress erfolgte mit einer Redoute bei Hof, an der 12.000 Menschen teilgenommen haben sollen. Die Winterreitschule und der Redoutensaal waren durch 8000 Wachskerzen erhellt. Die Herrscher und Mächtigen verfügten über Thronhimmel, überall gab es Buffets mit den köstlichsten Erfrischungen und Getränken aber auch ein ungeheures Gedränge.

Dennoch konnte man das Tanzbein schwingen zu Musik, die vielleicht so geklungen hat:

FRANZ SCHUBERT. GRAZER GALOPP

Dieses wichtige Treffen hatte am 2. Oktober 1814 begonnen und ging viel später als erwartet im Juni 1815 mit der Unterzeichnung der Kongressakte zu Ende.

Damit begann eine verhältnismäßige friedliche Periode, die bis 1848 währen sollte.

Kurze Zeit später wurde das alte Burgtor und der gesprengte „Spanier“ abgetragen und ein neues Äußeres Burgtor durch Peter Nonbile erbaut; die feierliche Einweihung fand am 10. Jahrestag der Völkerschlacht zu Leipzig statt.

Der junge Kaiser Franz Josef I. hatte mittlerweile die Kaiserwürde von seinem sehr kranken Onkel Ferdinand, der Gütige, übernommen; damals konnte er nicht wissen, dass er dereinst der am längsten dienende Kaiser des Reiches werden würde. 68 Regierungsjahre, das ist schon eine sehr lange Zeit.

Die Wohnungsnot in der Haupt- und Residenzstadt wurde immer drückender spürbar, eine Lösung musste gefunden werden. Mit dem berühmten Handschreiben erließ der Kaiser Franz Josef I. am 20. Dezember 1857 die Stadterweiterung mit den folgenden Worten:“ Es ist Mein Wille, dass die Erweiterung der Inneren Stadt….. ehestmögliich in Angriff genommen wird.“

In diesem Erlass wird auch festgehalten, dass auf die nötigen Gebäude für Museen und Galerien Bedacht zu nehmen sei.

Zur Planung der großzügigen Erweiterungen wurde ein internationales Komitee eingeladen, zu dem auch der damals schon sehr bekannte Architekt Gottfried Semper zählte. Die Jury ließ sich die verschiedenen Entwürfe der Teilnehmer vorlegen und schlussendlich entschied man sich für den Wiener Architekt und Baumeister Carl Hasenauer. Gemeinsam mit Gottfried Semper wurde dann das sogenannte Kaiserforum entwickelt und leicht abgeändert errichtet, so wie wir es heute sehen können:

Am Heldenplatz steht jetzt die Neue Burg mit ihren unterschiedlichsten Sammlungen, gegenüber am Maria Theresienplatz die beiden markanten Bauten des Kunsthistorischen und Naturhistorischen Museums und als schönen Abschluss im Hintergrund die ehemaligen Hofstallungen, heute das beliebte Museumsquartier.

Der Heldenplatz selber, dessen Name von den beiden übergroßen Reiterstandbildern stammt, hieß damals volkstümlich Promenadenplatz.

Nach dem Verlust des Ersten Weltkrieges und dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie diente der Heldenplatz als Kundgebungsplatz aller politischen Lager.

Am 15. März 1938 verkündete Adolf Hitler quasi als Geste des Triumphes über die Vorgängerregierung vom Balkon der Neuen Burg aus, den versammelten Massen auf dem Heldenplatz den „Anschluss Österreichs“ an das Deutsche Reich

FRANZ LISZT: TRAUERMARSCH

…und dann fielen die Bomben und fielen und fielen … 

Und jetzt? Wieder ist der Heldenplatz Versammlungsort mehr als das, Treffpunkt und Platz für Erholung. Und jedes Jahr, am 8. Mai, wird an diesem Platz feierlich der Tag der Freude begangen – und es bleibt Freude!

Heute so viele Jahre später und um so viele Erfahrungen hoffentlich reicher sehen wir die Wiener Hofburg in einem neuen Licht. Obwohl sie niemals einem Gesamtkonzept oder einheitlicher Planung unterworfen war, ist ein historisches aber auch zeitgemäßes Gesamtkunstwerk im Herzen unserer Stadt gewachsen.

Jedes Mal, wenn ich nach  getaner Arbeit im Tempel hinaus gehe durch den Durchgang zum Heldenplatz und weiter Richtung Burgtor und dann in der nächtlichen Stille stehen bleibe, mich rundumschaue, vielleicht leuchten die Sterne oder sogar ein gelber Mond, dann geht mir das Herz auf.

 nach einem Text von Joseph von Eichendorf

ROBERT SCHUMANN: MONDNACHT

Es war, als hätt der Himmel

Die Erde still geküsst,

Dass sie im Blütenschimmer

Von ihm nun träumen müsst’.

Die Luft ging durch die Felder

Die Ähren wogten sacht,

Es raunten leis die Wälder

So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte

Weit ihre Flügel aus,

Flog durch die stillen Lande,

Als flöge sie nach Haus.

Der strenge Herr Knigge und seine bürgerliche Gesellschaftslehre

„Welche Gläser nimmt man für Weißwein?“ Passt ein dunkelgrauer Mantel für eine Beerdigung?“ – „Darf ich meinem Vorgesetzten das Du-Wort abschlagen?“

All das steht im Original-Knigge – nicht!

Knigge war Aufklärer und sein bekanntestes Werk „Über den Umgang mit Menschen“ eine ernsthafte Anleitung für den bürgerlichen Aufstieg. Doch die Geschichte war nicht gnädig mit Person & Werk! Schon kurz nach Knigges Tod beginnen Verleger, die Gesellschaftslehre umzuschreiben. Jede Neuauflage enthält weitere, wild zusammengewürfelte Benimmregeln, bis sich spätestens im 20. Jahrhundert die Spur des Verfassers fast völlig verflüchtigt. Was wir heute unter „dem Knigge“ verstehen, hat mit dem Originalwerk absolut nichts mehr zu tun.

Der Selfmademan wider willen

Das Geschlecht der Knigge reicht bis 12. Jahrhundert zurück, ein Lehensbrief aus dem 14. Jahrhundert beteilt die Knigges mit Gütern, 1665 folgt die Erhebung in den Freiherrenstand, die Familie bringt Würdenträger hervor und genießt einiges Ansehen. Bis zu Adolphs Vater Philipp! Sein ausufernder Lebensstil mündet in gigantische Schulden, die den jungen Adolph mittellos zurücklassen als der Vater früh verstirbt. Das Gut kommt unter Gläubiger-Kuratel, der 14jährige wird einem beamteten Vormund zugeteilt und in ein Knabenpensionat in Hannover geschickt. Seine kleine Apanage reicht kaum für das Notwendigste, und er kämpft zeitlebens mit Geldsorgen. Knigge wird sein Gut nie zurückerhalten und sein ganzes Leben nach einer Anstellung an einem Hof streben. Obwohl zeitlebens krank, wird er den Großteil seiner Zeit und seiner beschränkten Mittel auf Korrespondenz- und Brüdervereine, Freundschaftsbünde und Freimaurerlogen verwenden. Knigge ist ein homme de lettre im Zeichen der bürgerlichen Emanzipation, die er in hunderten Briefen an Gleichgesinnte oder Widersacher voranzutreiben trachtet – nicht immer klug, nicht immer mit lauteren Mitteln, oft nicht zielführend, doch mit großem Elan.

Als Spross eines Adelsgeschlechts war Knigge standesgemäß erzogen worden. Nun braucht er über Nacht einen Broterwerb und sein Vormund rät ihm, sich Fürsprecher zu suchen – schwer genug, denn der Name Knigge ist entehrt und der junge Freiherr ein
mittelloser Bittsteller. Knigge beginnt, die Klinken deutscher Höfe zu polieren. Zunächst mit Erfolg: Mit 20 wird er Hofjunker in Kassel. Der Fürst erlaubt ihm sogar, sein Jura- und Kameralistik- Studium fortzusetzen. Knigges Zukunft scheint gesichert. Doch nach nur drei Jahren verlässt er enttäuscht Hof und Stadt. Biographen berichten von großen Anpassungsschwierigkeiten bei Hofe, zahlreichen Intrigen und bösen Hofdamen. Knigge selbst schreibt dazu Jahre später: „Ich trat als ein sehr junger Mensch, beynahe noch als ein Kind, schon in die große Welt und auf den Schauplatz des Hofes. […] Meine Lebhaftigkeit verleitete mich zu großen Inconsequenzen; ich übereilte alles, that immer zu viel oder zu wenig, kam stets zu früh oder zu spät, weil ich immer entweder eine Thorheit begieng, oder eine andere gutzumachen hatte. Daher kamen unendlich Widersprüche in meinen Handlungen, und ich verfehlte bey fast allen Gelegenheiten den Zweck, weil ich keinen Plan verfolgte.“

Noch in Kassel heiratet der 22jährige die Hofdame Henriette von Baumbach, mit der er eine Tochter haben wird. Leider wissen wir nichts über Henriette, auch nicht, was sie dachte, als sie angesichts des beleidigten Abgangs ihres Gatten aus Kassel auf das Gut ihrer Mutter zurückkehren muss – einen Ehemann im Schlepptau, der ankündigt, sich nun ganz seinen kreativen Talenten widmen zu wollen. Knigge kann reimen, komponieren und schreiben.

Zeitlebens wird er acht Romane verfassen, sehr viel komponieren und musizieren, unzählige Theaterstücke, Übersetzungen und Rezensionen publizieren, als Regisseur und Schauspieler arbeiten, Predigten, Zeitschriftenbeiträge, Freimaurer- und Illuminatenschriften sowie Gedichte und Reisebeschreibungen zu Papier bringen. Am Ende wird sein literarisches Erbe 24 Faksimile-Bände umfassen.

Und siehe da, Knigge hat Erfolg mit seiner Schriftstellerei, ja er wird sogar zu einem der meistgelesenen Aufklärungs- und Unterhaltungsschriftsteller seiner Zeit. Seine kreativen Schöpfungen sichern später sogar die Existenz der Familie. Vor allem Knigges autobiografisch gefärbte Romane sind Bestseller. Doch sie verschmelzen schon zu Lebzeiten mit Knigges gelebtem Leben, und heute kann selbst der penibelste Historiker nicht mit letzter Gewissheit sagen, welches pikante Detail aus Knigges Leben einem seiner Romane oder der Wirklichkeit geschuldet ist – ich habe sie daher samt und sonders weggelassen. Ein Biograph beschreibt Knigge später etwas spitz als „den Till Eulenspiegel des ‚tintenklecksenden‘ 18. Jahrhunderts.“ Fatal ist vor allem Knigges Neigung, sein schriftstellerisches Talent für literarische Rachefeldzüge zu nutzen. Er zeichnet seine Romanfiguren so lebensecht, dass Zeitgenossen leicht erkennen können, wen er mit seinem beißenden Spott meint. Keine kluge Strategie, um sich bei Hofe oder unter den Dichtern & Denkern seiner Zeit beliebt zu machen!!!! In seinem “Roman meines Lebens” (1781-83, Kassel und Hanau betreffend) – ein Sittenbild kleiner deutscher Höfe – outet er gnadenlos die Kabalen, Intrigen und Betrügereien bekannter Hofmitglieder. Das Publikum ist begeistert – der Hofadel wetzt die Messer!

Während seiner fünf Jahre auf Gut Nentershausen sendet Knigge aberdutzende Bewerbungsschreiben, um an einem Hof unterzukommen, doch vergebens! Goethe verhilft ihm in Weimar zwar zu einem Titel ohne Pouvoir, doch das erhoffte Avancement bleibt aus.

1777 zieht Knigge 25jährig in die Residenzstadt Hanau, weil ihm der Fürst Versprechungen macht. Er kümmert sich um die Errichtung eines Hoftheaters und schreibt Theater- und Ballettstücke. Aber es wäre nicht Knigge, verfasste er nicht eines Tages eine vernichtende Kritik über ein bekanntes Theaterensemble samt Direktor, das ein vermeintlicher Freund ohne seine Zustimmung, dafür aber wortgetreu in einer Zeitung abdrucken lässt! Die Theaterwelt ist entsetzt, die Türen zu den Bühnen Mitteldeutschlands fallen zu. Und am Hanauer Hof läuft es nicht besser. Fürst und Hofstaat fühlen sich durch Knigges wiederholte Nörgeleien über ihre dekadenten Sitten gekränkt. Nach drei Jahren wendet sich der Fürst ab, die Aufträge versiegen. Knigge sitzt wieder einmal auf dem Trockenen, die Familie rettet sich erneut nach Nentershausen.

Der enthusiastische Maurer

Vorübergehend wendet sich Knigge nun – wie schon sein Vater –, mystischen Geheimbünden zu. Er kokettiert mit den Rosenkreuzern und betreibt etwas Alchemie. Dann konzentriert er sich wieder auf seine Lieblingsidee: einen Korrespondenzverein von „hochstehenden Gleichgesinnten“, die der sittlichen Katastrophe in Europa ein Ende bereiten sollten. 1780 zieht es ihn nach Frankfurt. Hier will der 28jährige sein maurerisches Netzwerk nützen, das tatsächlich beeindruckend groß ist, um gesellschaftlich voran zu kommen.

In der Frankfurter Loge „Zur Einigkeit“ kommt er mit Adam Weishaupt (1748-1830) in Kontakt, dem Gründer des Illuminatenordens. Weishaupts Ziel ist es, die Gedanken der Aufklärung durch gebildete Illuminaten verbreiten zu lassen, die bei Hofe oder in der Gesellschaft wichtige Positionen innehaben bzw. in solche vorrücken sollen. Knigge ist hingerissen! In kürzester Zeit wird er zum Wortführer der Frankfurter Illuminaten, er ist sicher, seinen Korrespondenzverein gefunden zu haben. Zwei Dinge faszinieren ihn: die konspirative Grundidee und die Möglichkeit, all sein Wissen in die Entwicklung eines – wie
ihm scheint – idealen Aufklärungsvereins zu stecken, den er gedenkt, freimaurerisch auszugestalten.

Weishaupt lässt Knigge lange Zeit im Unklaren darüber, wie es um seinen Illuminatenorden bestellt und wie weit er 1780 gediehen ist. Als er ihm eines Tages eröffnet, dass es weder eine Ordnung noch ausformulierte Mittel- und Hochgrade gäbe, ist Knigge keineswegs enttäuscht, sondern legt nun erst richtig los. Er initiiert zahlreiche Illuminatenzirkel, schafft es, an die 500 Mitglieder und Interessenten zu rekrutieren und stürzt sich in die Entwicklung eines „Ordensgesetzes“ samt ausdefinierter Hochgrade. Stolz verkündet er in einem Rückblick auf seine Arbeit am Ordensgesetz, dass er alles, vom Minerva-Kult über die Templer bis zu seinen mystischen Studien in diese Arbeit „hineingepackt“ habe. Weishaupt plädiert für eine Verschiebung der Verbreitung! Knigge hat jedoch Teile des Ordensgesetzes bereits in Umlauf gebracht, um Mitglieder anzuwerben. Das Verhältnis der beiden gerät in Schieflage. Außerdem erheben angeworbene Mitglieder Anspruch auf einen Hochgrad oder zumindest eine Verbesserung ihrer Karrierechancen in der Gesellschaft – und alle wenden sich mit ihren Anliegen an Knigge, der sich als Vorzeige-Illuminat weit in die Öffentlichkeit vorgewagt hatte. Knigge erbittet Rückendeckung von Weishaupt, die er nicht erhält, und so wendet er sich wieder verstärkt der Freimaurerei zu.

1782 fordert er auf dem großen Freimaurer-Konvent in Wilhemsbad eine „gewisse Vereinheitlichung“ aller Freimaurersysteme auf den unteren drei Graden, die Arbeit an gemeinsamen Zielen, das Verbot von Geldzuteilungen an Hochgrade, die Wahl von Meistern & Direktorium durch die eigene Loge und die Abschaffung von „Vorzügen“ der oberen Grade gegenüber den Niedriggraden. Trotz einigen Aufsehens zieht Knigges schriftliche Eingabe beim Konvent keinerlei Konsequenzen nach sich.

Knigge wirkt nun an der Gründung weiterer Logen mit, schreibt für sie Konstitutionen und nimmt in einer Heidelberger Loge das Amt des Redners ein. Dieses Amt ist der letzte Hinweis auf ein Amt Knigges in der Freimaurerei. Wenige Jahre später wird er eine Polemik gegen die Maurerei herausbringen (und gleichzeitig über eine Neukonzeption nachdenken). Auch die Zusammenarbeit mit Weishaupt scheitert. Knigge nennt die Aufnahme von Fürsten in den Illuminatenorden als Grund für das Zerwürfnis. Auch Weishaupt betreibt mit anderen Knigges Abgang, um seinen Rivalen loszuwerden bzw. Knigges feurige Aneignung „seines“ Ordens ein für allemal zu beenden – genau wird man das nie wissen. Knigge kehrt neuerlich samt Gattin nach Nentershausen zurück und verarbeitet seine Zeit mit den Illuminaten in einem Roman. („Die Verirrungen des Philosophen oder Geschichte Ludwigs von Selenberg“)

1788 – Knigge ist nun 33 – erscheint sein Buch „Über den Umgang mit Menschen– eine wortgewaltige, kluge, psychologisch informierte Analyse der gesellschaftlichen Situation in Deutschland inmitten von Aufklärung und gesellschaftlichem Umbruch. Sehr vieles davon liest sich auch heute noch flüssig und schlüssig. Vorgestrig wirken nur Knigges Passagen über
Frauen und Kinder. Der „Umgang“ hat augenblicklich Erfolg, noch im gleichen Jahr und im Jahr darauf erfolgen Nachdrucke.

Doch die Schatten der Illuminaten sind lang. 1783 veröffentlicht die bayrische Regierung etliche Originalschriften der Illuminaten, um sie zu outen (auch wenn nur die Ordensnamen darin enthalten sind). 1785 wird der Orden in Bayern verboten, Weishaupt verliert seine Professur und flieht. Zahlreiche Kurfürsten erlassen scharfe Edikte gegen Geheimbünde. Und Knigge gerät langsam ins Visier der Geheimpolizei. Er verfasst einen Rechenschaftsbericht, der mit einer Absage an jedes Geheimwesen endet. 1787 ist er jedoch bereits wieder Mitglied in der „Deutschen Union“, einem geheimen Korrespondenzverein, deren Vorsitzender bald darauf verhaftet wird, was das Ende des Vereins bedeutet.

1792 erhält der 40jährige endlich in Bremen eine Anstellung als Oberhauptmann. Er lebt in einer herrschaftlichen Dienstwohnung, hat ein gutes Verhältnis zu seinen Vorgesetzten und diskutiert mit seinen Hamburger Freunden über die Französische Revolution.

Als 1793 Ludwig XVI hingerichtet wird, fallen viele intellektuelle Kampfgefährten in eine Art Schockstarre. Keiner hatte eine blutige Revolution gewollt, alle hatten von einem großen Reformwerk geträumt. 1795 verfasst Knigge ein „Manifest“ über den idealen Staat und den idealen Gesellschaftsvertrag. Hierin distanziert er sich von aller Geheimniskrämerei und proklamiert die Notwendigkeit, erneut seine Idee des patriotischen Korrespondenzvereins, den er noch zu gründen verspricht und der sich der Verbreitung aufgeklärter Nachrichten widmen solle. Zu diesem Zeitpunkt arbeitet Knigge bereits von einem Bettwagen aus, den Bedienstete schieben. Doch das tut seiner Korrespondenztätigkeit keinen Abbruch. Er schreibt und schreibt und schreibt – als spürte er sein nahendes Ende.

Knigges Polemiken gegen Hofadelige und sein Engagement für Geheimbünde, allen voran seine prominente Rolle bei den Illuminaten, rücken ihn nun endgültig ins Scheinwerferlicht misstrauischer Behörden. 1795 wird er sogar auf einer Dienstreise festgesetzt, weil seine Vorgesetzten befürchten, er könnte den herannahenden Franzosen die Stadt Bremen aushändigen. Im gleichen Jahr versucht ihn die Wiener Geheimpolizei in einem Schreiben unter dem Namen des Ex-Illuminaten Aloys Blumauer in eine Falle zu locken, um ihm Namen von Revolutionsbefürwortern zu entlocken. Knigge beginnt tatsächlich, mit Blumauer zu korrespondieren. Doch bevor er allzu viel verraten kann, stirbt er 44jährig am 6. Mai 1796 in Bremen.

„Der Knigge“ – ein Name, ein Missverständnis

Knigge hatte nie vor, ein Komplimentier-Buch zu schreiben. Im Gegenteil! Seine Ambition war es, eine Sozialtechnologie für den dritten „Stand“ zu verfassen, basierend auf seinen eigenen Erfolgen und Misserfolgen bei Hofe und in den Reichsstädten. Dabei dient ihm der Hofadel als Negativschablone für seine Verhaltensratschläge an das Bürgertum unter dem Motto: so nicht!

Selbst- und Menschenbeobachtung sind Knigges herausragendste Talente. Er beschreibt minutiös wie die deutsche Gesellschaft in Reichsstädten, am Land und an den Höfen tagtäglich funktioniert. Und wie und mit welchen Mitteln es dem Bürgertum gelingen kann, in dieser Welt voranzukommen. Will man die Machtverhältnisse, vor allem die unausgesprochenen Regeln des Ancien regime verstehen, so gibt es keine bessere Lektüre als Knigges Umgangslehre. Knigge hört und sieht alles, das Gesagte und Ungesagte, das Gemeinte und Geahnte, die ungeschriebenen Gesetze adeliger Salondominanz und die Ahnungslosigkeit des Bürgers ohne Deutungshoheit. Oft, so glaubt man zu erkennen, kennt Knigge sogar beide Seiten, die Arroganz des Adeligen gegenüber seinem Bedienten und die Rolle des sozial depravierten Bittstellers bei Hofe. Gerade deswegen sind seine Beobachtungen so wertvoll. „Als praktischer Hofmann“, so einer seiner Biographen, „hat er (…) völlig versagt, als ‚Hofmaler‘ war er jedoch gefürchtet, da seinem sicheren, genauen Blick nichts entging“. Dabei versteht sich Knigge als Antipode Kants, den er dafür angreift, nichts für das konkrete Fortkommen des Bürgertums zu tun, sondern nur an unabänderlichen Gesetzen zu basteln; kritisch hatte er sich früher schon über Goethe und Schiller geäußert, denn Knigges „Gesetze der Weltklugheit“ sind Kompromissformeln für ein Leben in zwei Welten, dem Ancien regime und dem aufkommenden bürgerlichen Zeitalter.

Als freischaffender Schriftsteller ist er von bürgerlichem Bewusstsein erfüllt, als Freimaurer treibt er die Demokratisierung der politischen Verhältnisse voran; als Höfling scheitert er und seine Polemiken gegen „Hofschranzen“ und „Wortpinsel“, also die Entourage von Fürsten und hochstehenden Persönlichkeiten, dienen ihm dazu, dem nach wie vor dominanten Hofadel die Maske vom Gesicht zu reißen, wie er schreibt. Die Fürsten greift Knigge nie an, schließlich will er sein Leben behalten – und sie außerdem für sein Reformwerk gewinnen. Knigges Sittenbild der adeligen Lebenswelt macht Enttäuschungen bei Hofe antizipierbar und trainiert den illusionslosen Blick des Bürgers auf die geltenden Verhältnisse. Das, so Knigge, solle den Bürger ertüchtigen, seine Ideale beharrlich zu verfolgen und seine Ziele zu erreichen – über alle Rückschläge hinweg.

Gesellschaft wird in Knigges Umgangslehre als System von Menschen mit rollenspezifischen Verhaltensformen skizziert – und nicht als gottgewollte Ordnung; eine attraktive Vision für den gebildeten Mittelstand. Attraktiv ist das Umgangsbuch zu seiner Zeit aber auch wegen der vielen Anekdoten, Knigges populärem Bildungsdeutsch und der Ernsthaftigkeit, mit der er das aufklärerische Projekt vorantreibt. Seine Strenge, seine moralische Selbstgerechtigkeit und seine Unerbittlichkeit gegenüber dem „mittleren Management“ an deutschen Höfen lassen ihn zum Wort- und Anführer eines Bildungsbürgertums werden, das immer mehr auf gesellschaftliches Fortkommen und ökonomischen Erfolg pocht. Deshalb wird er gelesen. Deshalb wird er bewundert oder belächelt, je nachdem. Deshalb wird er bekämpft.

Im Unterschied zu Knigges lebenslangem Bemühen um den Aufstieg des „tüchtigen Bürgers“, tut er sich mit Frauen schwer. Er betont immer wieder, dass es über Frauenzimmer kaum etwas zu sagen gäbe, da die Natur deren Aufgaben definiere. Und auch als Vater einer einzigen Tochter, die er vor allem gut zu verheiraten trachtet, und als Gatte einer Ehefrau, die jeden Umzug und jede Grille mitvollzieht, zeigt er wenig Empathie. Dennoch lesen wir, dass Ehefrau und Tochter in die maurerischen Geheimnisse eingeweiht waren und bei Besuchen maurerische Symbole an ihren Kleidern trugen. Außerdem dürfte seine Frau viele seiner maurerischen Manuskripte kopiert, lästige Besucher abgefangen und seine Korrespondenz gemanaget haben. Aus seinen Briefwechseln mit Freunden erfahren wir jedoch, dass Knigge in seiner Ehe unglücklich war und sich oft beschwerte, seine Frau würde ihm ständig Vorwürfe über seine Fantastereien machen. Wen wundert’s – möchte man gerne ergänzen.

So wenig Knigge über bürgerliche Frauen zu sagen hat, so gern polemisiert er über die„Schöngeisterey und Affektiertheit“ der Salondamen, ihre „Intrigen und Verwirrungskünste“. Dabei wissen wir, dass er an mehreren Höfen anziehende Baronessen auszumachen verstand und sich ihnen wiederholt zu Füßen warf. Allein, die Damen fanden keinen Gefallen an ihm. In jedem Roman Knigges, der einen Mann auf der Flucht vor ungerechter Verfolgung zeigt, sind bösartige Weiber von Stande am Werk, die mit sicherer Hand Intrigen schmieden. Der arme Herr Knigge, im adeligen Salon, dem Jagdrevier der hochgeborenen Verführerinnen, haben ihm bürgerliche Strenge und maurerische Männlichkeit offensichtlich nichts genützt. Das lag vermutlich auch daran, dass die meisten adeligen Salonieren mit dem bürgerlichen Aufklärer keinerlei gesellschaftliches Terrain teilten, weder Sprache noch Stil oder Ton.

Mit dem Untergang des Ancien regime verschwanden die mächtigen Hofdamen und Konkubinen allmählich von der Bildfläche, und die Bürgerinnen unter ihren Hauben. Bevorzugte Lektüre: Frauenzimmeralmanache und Knigges Umgangsbuch, nun schon jeder Welterklärung entledigt, dafür spießig, sperrig formuliert und uninspiriert. Kein Wunder, dass es noch über 100 Jahre dauern sollte, bis auch die Bürgerinnen nach Emanzipation riefen.

Die Zehn Gebote


Die Idee zu diesem Baustück, kam mir in der Folge eines sehr berührenden und aufwühlenden Theaterbesuches im Volkstheater. Das Stück, das ich gesehen hatte, war „Die Zehn Gebote“ nach den Filmen von Krysztof Kieslowski.

Ich verfolgte die Szenen und versuchte, dabei immer wieder das jeweilige Gebot zu formulieren, auf dass sich die Szene bezog.

Und das für mich Erschreckende war, dass ich nicht mehr in der Lage war, die Zehn Gebote zu formulieren!

Ich zitiere aus dem Programmheft:

„Von den zehn Geboten ist in dieser Welt keine Rede. Zwar ist die katholische Kirche mit ihren Ritualen gut präsent, bei der individuellen Krisenbewältigung bleibt sie jedoch unsichtbar. Die fällt auch ohne biblische Vorschriften schwer genug.

„Diebstahl, Ehebruch, Besitzgier, Falschaussage, Mord … In jeder der 10 Geschichten vom wahren Leben, die KK vor uns aufblättert, wird eins der biblischen zehn Gebote folgenschwer übertreten – und sei es ein so unscheinbar harmloses wie das Heiligen des Feiertages. Dabei sind die Gebote selten ausgesprochen und niemandem bewusst. Regie führt immer der Zufall, in tragischen wie in komischen Situationen.

Kieslowski zeigt, wie schwer es ist, in einer Welt, in der Gott tot ist und die Ideologien am Ende, eigene Maßstäbe zu entwickeln.“ (Zitatende)

Mich ließ das Thema der „Zehn Gebote“ seitdem nicht mehr los. Erstens musste ich feststellen, dass es mir schwerfiel die zehn Gebote zu formulieren. Wann hatte ich mich das letzte Mal damit auseinander gesetzt? In der Volksschule lernten wir im Religionsunterricht die „Zehn Gebote“ und zeichneten etwas dazu. Vermutlich irgendwann um die Erstkommunion herum. Denn da müssen diese kindlichen Wesen mit 8 Jahren dann zur Beichte und ihre Sünden bereuen, damit sie „gereinigt“ die 1. Kommunion empfangen dürfen.

Trotz intensiven Nachdenkens fiel mir kein späterer Zeitpunkt ein, wo ich mich persönlich mit den „Zehn Geboten“ auseinandergesetzt hätte.

„Die Zehn Gebote“, auch zehn Worte oder Dekalog sind die Grundlage des christlichen Glaubens. Sie sind die direkte Rede Gottes an sein Volk formuliert und fassen seinen Willen für das Verhalten ihm und den Mitmenschen gegenüber zusammen. Im Judentum sowie im Christentum habe sie zentralen Rang für die theologische Ethik sowie die Kirchen -und Kulturgeschichte Europas mitgeprägt.

Wenn „Die Zehn Gebote“ diesen Stellenwert haben, warum sind sie in unserem Leben so wenig präsent? Wie aktuell und passend können diese zehnGebote heute für uns sein?

Und tatsächlich bin ich auf sehr viele Neuformulierung oder Anlehnungen an die „Die Zehn Gebote“ gestoßen, die den Versuch unternommen haben, die moralischen Ge -und Verbote auf die heutige Zeit zu adaptieren.

Ich habe daher mein BS in 4 Teile gegliedert:

  1. Die klassischen zehn Gebote
  2. Gebots- und Verbotsgesellschaft
  3. Die alternativen Gebote
  4. Die zehn Gebote der FM
  1. „Die Zehn Gebote“ im christlichen evangelischen und testamentarischen Sinn

Hut ab vor jedem/jeder der „Die Zehn Gebote“ zitieren kann. Wobei jetzt noch dazukäme zu klären, welche Fassung der „Zehn Gebote“ (aus welcher Zeit und welchem religiösen Umfeld).

Ich zitiere Erzdiözese Wien:

  1. Du sollst den Herrn, deinen Gott anbeten und ihm dienen
  2. Du sollst den Namen Gottes nicht verunehren
  3. Du sollst den Tag des Herrn heiligen
  4. Du sollst Vater und Mutter ehren
  5. Du sollst nicht töten
  6. Du sollst nicht die Ehe brechen
  7. Du sollst nicht stehlen
  8. Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen
  9. 10.) Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Gut.

Keine Angst, ich werde jetzt nicht auf jedes der einzelnen Gebote eingehen (auch wenn das sicher sehr interessant sein könnte).

Die zehn Gebote sind eigentlich acht Verbote! Wie gültig können diese Regeln heute noch sein? Trump meint, er sei Katholik, hat aber kein Problem für alle Bundesstaaten wieder die Todesstrafe zu fordern?

Wie wichtig wird das 4. Gebot genommen? Vater und Mutter ehren? Nicht wirklich mehr ein Anliegen der heutigen Gesellschaft, die sich überwiegend an jüngeren Menschen orientiert und das Alt sein mit Belastung und Kosten vielfach assoziiert.

Ja, die Basics wie nicht stehlen und nicht töten, haben auch in die Jetztzeit Eingang gefunden.

Aber gegen deinen Nächsten aussagen, Ehe brechen, nicht begehren deines nächsten Frau und/oder Gut? kann ich so in unserer heutigen Gesellschaft nur mehr in sehr stark gemindert Form erkennen. Hier gibt es keine Strafdrohungen, die ein Zuwiderhandeln unter Strafe stellen, aber auch keine Gesetze, die dies schützen sollten!

Und dass die ersten drei Gebote von nur mehr einer Kleinzahl an Menschen gelebt werden, versteht sich von selbst. 

Was ist also geblieben von der Kernaussage?

Dank Bruder Wolfgang, dem ich erzählt hatte, dass ich an diesem BS arbeite, machte er mich aufmerksam auf eine Sendung von ATV zum Thema „Die Zehn Gebote“. Ich gehe wohl zurecht davon aus, dass niemand von euch diese zwei Folgen auf ATV gesehen hat. Meinungsforscherin Karmasin hatte eine repräsentative Umfrage unter 1800 Österreichern gemacht, ob sie „Die Zehn Gebote“ einhalten, jemals übertreten hätten und welchen Stellenwert sie ihnen heute geben würden.

Ich fasse für mich die interessantesten Ergebnisse zusammen:

An den ersten drei Plätzen kamen gemäß dieser Umfrage:

  1. Du sollst nicht töten (5. Gebot)
  2. Du sollst Vater und Mutter ehren (4. Gebot)
  3. Du sollst nicht stehlen (7. Gebot)

Bei nahezu allen anderen Verboten, erkannte der Großteil der Befragten keinen direkten heutigen Bezug zu ihrem Leben, respektive sind der Auffassung, dass sie um heute gültig zu sein, umformuliert werden sollten!

Die ersten drei Gebote sind leider am wenigsten der Bevölkerung präsent geblieben!(8., 9. und 10.  Stelle im neuen Ranking).

Mit Sicherheit haben sie auch den stärksten Bezug und Sinnhaftigkeit zu ihrem Entstehungszeitpunkt. Zum Zeitpunkt der Übermittlung der „Zehn Gebote“ an die Menschen, musste sich der neue Glaube gegen die Vielgötterei, Naturgötter, Götzenanbetung und Ähnliches abgrenzen.

In jedem Fall war/ist der Sinn der „Zehn Gebote“ der Wertekatalog der christlichen/jüdischen Religion und der Menschen, die diesem Glauben angehören. Sollten sie sein!

Bei meinem Besuch auf dem jüdischen Friedhof in Prag und dem Besuch des jüdischen Museums und der Synagoge, fiel mir besonders auf der Stolz und die Erhabenheit, mit dem Gegenstände sowie Rituale und Riten präsentiert wurden, die sich offenbar in den letzten 4500 Jahren nicht verändert hatten! Ich versuchte mich daran zu erinnern, inwiefern die katholische Kirche umfassende Änderungen in den letzten 200-300 Jahren vorgenommen hätte! Die Messe wird auf Deutsch gehalten, der Priester spricht zu den Gläubigen, statt ihnen den Rücken zuzukehren.

Aber bei den wichtigen Dingen hat keine Öffnung stattgefunden! Zölibat, Frauen in der Kirche, Geschiedene ausgeschlossen von den Sakramenten und die Unfehlbarkeit des Papstes.

Wen wundert es da, dass die Menschen sich weder mit dem Sinn der Gebote, noch deren Einhaltung beschäftigen und sie im Alltag leben.

„Du sollst nicht töten“ hat Eingang ins Strafgesetzbuch gefunden! Ehebrechen hat keine gesetzlichen Konsequenzen, das „Du sollst nicht stehlen“ wird mittlerweile sehr weit interpretiert in der heutigen Moralvorstellung.

„Du sollst nicht gegen deinen Nächsten falsch aussagen“, hat in Zeiten von Shitstorm im Internet, Cybermobbing an Schulen eine immense Bedeutung bekommen, wird aber kaum bis gar nicht geahndet.

Und das 9. – 10. Gebot? Da brauche ich schon sehr viel Fantasie um darin im Heute einen Sinn zu erkennen (Schlagwort Konsumgesellschaft, Geiz ist geil! „Na, schauen wird man wohl dürfen?“

Insgesamt vermittelt mir das eine Leere im Glauben. Woran glauben dann all die Christen? Woran orientieren sie sich?

2.) Gebots- und Verbotsgesellschaft?

Zufälligerweise stieß ich auch auf einen Artikel im Profil mit dem Titel: „ Die Verbots-Gesellschaft, warum die Sehnsucht nach der Starken Hand?“

Ich zitiere aus dem Profil-Artikel: „ Verbote sind unverzichtbar. Sie definieren die rote Linie unseres Zusammenlebens. Zunehmend greift jedoch eine Politik der Regel Wut um sich – vom Essverbot in der Wiener U-Bahn bis zum Burkini-Verbot in Freibädern. Woher kommt die Sehnsucht nach der Starken Hand?“

Ich darf vorausschicken, dass Gebote zu formulieren ungleich schwieriger ist als Verbote! Somit war die Schaffung des allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches 1811-12 ein Meilenstein, der ja auch sehr bald vom deutschen BGB nachgeahmt wurde.                      

Es werden immer mehr Verbotsgesetze verabschiedet. Die Ausnahme zur Ausnahme! Eine immer größer werdende Zahl an Regelungen (Beispiel Bauvorschriften!).

Bei der Abfassung vieler Gesetze muss den unterschiedlichen Lobbys entsprochen und deren Spezialwünsche in den Entwurf eingearbeitet werden.

Worauf will ich hinaus? Wenn es an der roten Linie fehlt, kann ich nur an den Details basteln.

Und so kehre ich zurück von den „Zehn Geboten“, die wir nicht bis kaum befolgen, zu einer Flut an Verboten, die unüberschaubar uns allen das Leben schwer machen

Zitat Soziologe Reinhard Knoll: „Die arme Politik hat kaum mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Deshalb greift sie verstärkt mit Regeln ins Alltagsleben ein. Verbote signalisieren dem Wahlvolk Problembewusstsein und Stärke“.

Wir lösen ein Problem nicht, wir grenzen es mit Regeln und Verboten ein und hoffen, dass es danach nicht mehr existiert!

Reinhard Raml, GF des Ifes prüfte das Sicherheitsempfinden der Österreicher. „Während sich im Jahre 2013 noch knapp 80 Prozent „sicher“ oder „sehr sicher“ gefühlt haben, waren es 2016 nur noch 64 Prozent. Das Unsicherheitsempfinden hat sich im selben Zeitraum mehr als verdoppelt (13 Prozent) – trotzt jährlich sinkender Straftaten“.

Das waren die kritischen Anmerkungen. Nun möchte ich aber auch einen Ausblick geben auf interessante Versuche,  das Thema der „Zehn Gebote“ in die Jetztzeit zu transformieren.

3.) Alternative „Zehn Gebote“

Die „Neuen Zehn Gebote“ des Religionskritikers Ebon Musings von 2011:

  1. Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu
  2. Strebe immer danach, keinen Schaden anzurichten
  3. Strebe stets danach, Neues zu lernen
  4. Respektiere immer das Recht der Anderen, anderer Meinung zu sein als du
  5. Bilde Dir aufgrund deiner eigenen Vernunft und Erfahrung eine unabhängige Meinung; lass dich nicht blind von anderen führen 

Georgia Guidestones

Sind große Granitblöcke im US Staat Georgia, in denen ein alternativer Satz vonzehn Geboten in mehreren Sprachen eingemeißelt ist.

Die Sprachen sind: Englisch, Spanisch, Swahili, Hindi, Hebräisch, Arabisch, Chinesisch und Russisch! Beispiele:

Beherrsche Leidenschaft – Glauben – Tradition und alles sonst mit gemäßigter Vernunft

Vermeide belanglose Gesetze und unnütze Beamte

Würdige Wahrheit – Schönheit – Liebe im Streben nach Harmonie mit dem Unendlichen

Die Zehn Angebote des evolutionärem Humanismus von Michael Schmid-Salomon

In den Vorbemerkung heißt es (Zitat):

„Die zehn „Angebote“ wurden von keinem Gott erlassen und auch nicht in Stein gemeißelt. Keine dunkle Wolke soll uns auf der Suche nach angemessenen Leitlinien für unser Leben erschrecken, denn Furcht ist selten ein guter Ratgeber. Jedem Einzelnen ist es überlassen, diese Angebote angstfrei und rational zu überprüfen, sie anzunehmen, zu modifizieren oder gänzlich zu verwerfen.“

Beispiele:       

Verhalte dich fair gegenüber deinem Nächsten und deinem Fernsten

Habe keine Angst vor Autoritäten, sondern den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen

Befreie dich von der Unart des Moralisierens

Und nur zum Teil als Unterhaltung möchte ich auch aus der Religionsparodie Pastafarianismus, (Verehrung des Spaghetti Monster!) zitieren:

„Mir wär’s wirklich lieber, du würdest nicht meine Existenz als Mittel benutzen, zu unterdrücken, jemand zu deckeln, zu bestrafen, fertigzumachen und /oder du weißt schon. Ich verlange keine und benötige keine Opfer. Und Reinheit ist was für Trinkwasser, nicht für Menschen“.

Betrand Russell, Philosoph und Pazifist formulierte „Zehn liberale Gebote“:

Liberal im Sinne von aufgeschlossen, tolerant/vorurteilsfrei

Fühle dich keiner Sache völlig gewiss

Versuche niemals, jemanden vom selbstständigen Denken abzuhalten, denn es wird dir gelingen

Fürchte dich nicht davor, exzentrische Meinungen zu vertreten, jede heutige Meinung war einmal exzentrisch

Und zum Schluss Die zehn Gebote der Gelassenheit; als ihr Urheber gilt Papst Johannes XXIII und sind ein einfaches Angebot für eine unkomplizierte Lebensphilosophie. Sie beziehen sich nur zum Teil auf Gott und sind grundsätzlich für jeden anwendbar.

Und sie werden daher z.B. bei den Anonymen Alkoholikern verwendet:

  • Leben: Nur für heute werde ich mich bemühen, einfach den Tag zu erleben ohne alle Probleme meines Lebens auf einmal lösen zu wollen
  • Realismus:Nur für heute werde ich mich an die Umstände anpassen, ohne zu verlangen, dass die Umstände sich an mich anpassen
  • Lesen: Nur für heute werde ich zehn Minuten meiner Zeit einer guten Lektüre widmen. Wie die Nahrung für das Leben notwendig ist, ist die gute Lektüre notwendig für das Leben der Seele

Zum Teil sind diese Formulierungen lustig oder verwundern, zum Teil berühren sie aber.

Sie sind zumindest ein Versuch, Vorschläge zu erstellen für ein verantwortungsvolles Leben.

  • Die zehn Gebote der Freimaurerei

Im internationalen Freimaurer Lexikon wird der Mittelpunkt der Freimaurerei mit den Zehn Geboten und dem kategorischen Imperativ beschrieben.

Zitat: „In welchem Sinn in den „Alten Pflichten“ der Begriff Sittengesetz gemeint war, ist heute schwer zu erkennen; wahrscheinlich im Sinne der Zehn Gebote, wobei aber der Glaube an die göttliche Offenbarung derselben nicht ausgesprochen wurde.“

„Das Sittengesetz anzuerkennen heißt im freimaurerischen Sinn, bereit sein, der Stimme seines Gewissens zu folgen, Pflichtbewusstsein haben, guten Willens zu sein.“

Und ich habe einen interessanten Ansatz der Loge „Frei und offen“, veröffentlicht in Humanität Nr. 7/1993, gefunden: Die Zehn Gebote für Freimaurer (aus Humanität Nr. 7 /1993)  

1. Du sollst deinen Mitmenschen – unbeschadet seiner Rasse, Religion, Nationalität, seines Standes und seiner Lebensgewohnheit – als deinen Nächst Bruder ansehen

2. Du sollst das Recht, die Freiheit und die Würde eines jeden Menschen achten

3. Du sollst deinen Mitmenschen ausreden lassen, ihm zuhören und ihn zu verstehen suchen

4. Du sollst die religiösen, weltanschaulichen und politischen Überzeugungen Anderer achten

5. Du sollst gegen niemanden Zwang oder Gewalt anwenden und jeder Gewaltanwendung entgegentreten

6. Du sollst dein Eigentum immer auch zum allgemeinen Wohl nutzen, ohne anderen Menschen Schaden zuzufügen

7. Du sollst dich über die Angelegenheiten des Gemeinwesens informieren, für deine Überzeugung eintreten und bei der Lösung von Problemen selbst mit anpacken

8. Du sollst an Wahlen und Abstimmungen teilnehmen

9. Du sollst dich verweigern und Protest erheben, wann immer der Staat die Menschenrechte oder das allgemeine Völkerrecht missachtet

10.Du sollst gegen jeden Widerstand leisten, der die Ordnung unseres Grundgesetzes, insbesondere gegen den, der die Grundprinzipien der Demokratie zu beseitigen unternimmt

Wäre es nicht spannend zehn Gebote für unsere Loge zu formulieren?

Ich weiß, dass wir eine Logenverfassung haben, ein Hausgesetz, Leitbild etc.   Aber könnte es nicht spannend sein, einen Versuch zu unternehmen, in kurzer prägnanter Form zu formulieren, wofür LOGOS und wir stehen?

Zusammenfassung:   Gebote/Verbote in der Logos?

Beim Aufnahmeritual geloben wir vieles. Meist in der Aufregung wissen wir im Nachhinein wohl wenig von alldem, was wir gelobt haben. Aber wir können es in der Neophyten-Mappe nachlesen. Erst in der Ausbildung erfahren wir mehr und mehr über das Geheimnis der FM, deren Pflichten und Rechte (und ich meine damit nicht nur die Hausordnung/Verfassung der jeweiligen Loge).

Wir geloben Verschwiegenheit, wir geloben, die Regeln der Loge zu befolgen, wir geloben, an uns als rauen Stein zu arbeiten, wir geloben, unsere Überzeugung im Leben außerhalb des Tempels zu verteidigen, dafür einzutreten und am Gebäude der Menschlichkeit zu bauen, wir geloben, allen Brüdern und Schwestern respektvoll zu begegnen, uns gegenseitig zu unterstützen usw.

Ganz schön viel, was wir uns da vorgenommen haben? Oder nicht? Und nicht immer leicht, denn auch wir sind NUR Menschen! Und viele der vorhin genannten „hehren“ Absichten gehen manchmal ein wenig am steinigen Weg des menschlichen Zusammenwirkens verloren.

Aber genau das sollte uns u.a. als FM auszeichnen: zu verstehen, zu verzeihen und weiter zu hinterfragen.

Welche Gebote habe ich befolgt, welche Verbote übertreten und was noch wichtiger ist: sind diese Gebote/Verbote gestern wie heute gültig für jeden Einzelnen, für die Loge und für die FM generell? 

Oder könnte es vielleicht für unsere Loge interessant sein, höchstpersönliche eigene Gebote zu formulieren? Um damit unsere Identifizierung mit unserer Loge zu intensivieren und es uns selbst vielleicht auch leichter zu machen, diese Grundsätze in Zukunft noch mehr präsent zu haben?