„Welche Gläser nimmt man für Weißwein?“ Passt ein dunkelgrauer Mantel für eine Beerdigung?“ – „Darf ich meinem Vorgesetzten das Du-Wort abschlagen?“
All das steht im Original-Knigge – nicht!
Knigge war Aufklärer und sein bekanntestes Werk „Über den Umgang mit Menschen“ eine ernsthafte Anleitung für den bürgerlichen Aufstieg. Doch die Geschichte war nicht gnädig mit Person & Werk! Schon kurz nach Knigges Tod beginnen Verleger, die Gesellschaftslehre umzuschreiben. Jede Neuauflage enthält weitere, wild zusammengewürfelte Benimmregeln, bis sich spätestens im 20. Jahrhundert die Spur des Verfassers fast völlig verflüchtigt. Was wir heute unter „dem Knigge“ verstehen, hat mit dem Originalwerk absolut nichts mehr zu tun.
Der Selfmademan wider willen
Das Geschlecht der Knigge reicht bis 12. Jahrhundert zurück, ein Lehensbrief aus dem 14. Jahrhundert beteilt die Knigges mit Gütern, 1665 folgt die Erhebung in den Freiherrenstand, die Familie bringt Würdenträger hervor und genießt einiges Ansehen. Bis zu Adolphs Vater Philipp! Sein ausufernder Lebensstil mündet in gigantische Schulden, die den jungen Adolph mittellos zurücklassen als der Vater früh verstirbt. Das Gut kommt unter Gläubiger-Kuratel, der 14jährige wird einem beamteten Vormund zugeteilt und in ein Knabenpensionat in Hannover geschickt. Seine kleine Apanage reicht kaum für das Notwendigste, und er kämpft zeitlebens mit Geldsorgen. Knigge wird sein Gut nie zurückerhalten und sein ganzes Leben nach einer Anstellung an einem Hof streben. Obwohl zeitlebens krank, wird er den Großteil seiner Zeit und seiner beschränkten Mittel auf Korrespondenz- und Brüdervereine, Freundschaftsbünde und Freimaurerlogen verwenden. Knigge ist ein homme de lettre im Zeichen der bürgerlichen Emanzipation, die er in hunderten Briefen an Gleichgesinnte oder Widersacher voranzutreiben trachtet – nicht immer klug, nicht immer mit lauteren Mitteln, oft nicht zielführend, doch mit großem Elan.
Als Spross eines Adelsgeschlechts war Knigge standesgemäß erzogen worden. Nun braucht er über Nacht einen Broterwerb und sein Vormund rät ihm, sich Fürsprecher zu suchen – schwer genug, denn der Name Knigge ist entehrt und der junge Freiherr ein
mittelloser Bittsteller. Knigge beginnt, die Klinken deutscher Höfe zu polieren. Zunächst mit Erfolg: Mit 20 wird er Hofjunker in Kassel. Der Fürst erlaubt ihm sogar, sein Jura- und Kameralistik- Studium fortzusetzen. Knigges Zukunft scheint gesichert. Doch nach nur drei Jahren verlässt er enttäuscht Hof und Stadt. Biographen berichten von großen Anpassungsschwierigkeiten bei Hofe, zahlreichen Intrigen und bösen Hofdamen. Knigge selbst schreibt dazu Jahre später: „Ich trat als ein sehr junger Mensch, beynahe noch als ein Kind, schon in die große Welt und auf den Schauplatz des Hofes. […] Meine Lebhaftigkeit verleitete mich zu großen Inconsequenzen; ich übereilte alles, that immer zu viel oder zu wenig, kam stets zu früh oder zu spät, weil ich immer entweder eine Thorheit begieng, oder eine andere gutzumachen hatte. Daher kamen unendlich Widersprüche in meinen Handlungen, und ich verfehlte bey fast allen Gelegenheiten den Zweck, weil ich keinen Plan verfolgte.“
Noch in Kassel heiratet der 22jährige die Hofdame Henriette von Baumbach, mit der er eine Tochter haben wird. Leider wissen wir nichts über Henriette, auch nicht, was sie dachte, als sie angesichts des beleidigten Abgangs ihres Gatten aus Kassel auf das Gut ihrer Mutter zurückkehren muss – einen Ehemann im Schlepptau, der ankündigt, sich nun ganz seinen kreativen Talenten widmen zu wollen. Knigge kann reimen, komponieren und schreiben.
Zeitlebens wird er acht Romane verfassen, sehr viel komponieren und musizieren, unzählige Theaterstücke, Übersetzungen und Rezensionen publizieren, als Regisseur und Schauspieler arbeiten, Predigten, Zeitschriftenbeiträge, Freimaurer- und Illuminatenschriften sowie Gedichte und Reisebeschreibungen zu Papier bringen. Am Ende wird sein literarisches Erbe 24 Faksimile-Bände umfassen.
Und siehe da, Knigge hat Erfolg mit seiner Schriftstellerei, ja er wird sogar zu einem der meistgelesenen Aufklärungs- und Unterhaltungsschriftsteller seiner Zeit. Seine kreativen Schöpfungen sichern später sogar die Existenz der Familie. Vor allem Knigges autobiografisch gefärbte Romane sind Bestseller. Doch sie verschmelzen schon zu Lebzeiten mit Knigges gelebtem Leben, und heute kann selbst der penibelste Historiker nicht mit letzter Gewissheit sagen, welches pikante Detail aus Knigges Leben einem seiner Romane oder der Wirklichkeit geschuldet ist – ich habe sie daher samt und sonders weggelassen. Ein Biograph beschreibt Knigge später etwas spitz als „den Till Eulenspiegel des ‚tintenklecksenden‘ 18. Jahrhunderts.“ Fatal ist vor allem Knigges Neigung, sein schriftstellerisches Talent für literarische Rachefeldzüge zu nutzen. Er zeichnet seine Romanfiguren so lebensecht, dass Zeitgenossen leicht erkennen können, wen er mit seinem beißenden Spott meint. Keine kluge Strategie, um sich bei Hofe oder unter den Dichtern & Denkern seiner Zeit beliebt zu machen!!!! In seinem “Roman meines Lebens” (1781-83, Kassel und Hanau betreffend) – ein Sittenbild kleiner deutscher Höfe – outet er gnadenlos die Kabalen, Intrigen und Betrügereien bekannter Hofmitglieder. Das Publikum ist begeistert – der Hofadel wetzt die Messer!
Während seiner fünf Jahre auf Gut Nentershausen sendet Knigge aberdutzende Bewerbungsschreiben, um an einem Hof unterzukommen, doch vergebens! Goethe verhilft ihm in Weimar zwar zu einem Titel ohne Pouvoir, doch das erhoffte Avancement bleibt aus.
1777 zieht Knigge 25jährig in die Residenzstadt Hanau, weil ihm der Fürst Versprechungen macht. Er kümmert sich um die Errichtung eines Hoftheaters und schreibt Theater- und Ballettstücke. Aber es wäre nicht Knigge, verfasste er nicht eines Tages eine vernichtende Kritik über ein bekanntes Theaterensemble samt Direktor, das ein vermeintlicher Freund ohne seine Zustimmung, dafür aber wortgetreu in einer Zeitung abdrucken lässt! Die Theaterwelt ist entsetzt, die Türen zu den Bühnen Mitteldeutschlands fallen zu. Und am Hanauer Hof läuft es nicht besser. Fürst und Hofstaat fühlen sich durch Knigges wiederholte Nörgeleien über ihre dekadenten Sitten gekränkt. Nach drei Jahren wendet sich der Fürst ab, die Aufträge versiegen. Knigge sitzt wieder einmal auf dem Trockenen, die Familie rettet sich erneut nach Nentershausen.
Der enthusiastische Maurer
Vorübergehend wendet sich Knigge nun – wie schon sein Vater –, mystischen Geheimbünden zu. Er kokettiert mit den Rosenkreuzern und betreibt etwas Alchemie. Dann konzentriert er sich wieder auf seine Lieblingsidee: einen Korrespondenzverein von „hochstehenden Gleichgesinnten“, die der sittlichen Katastrophe in Europa ein Ende bereiten sollten. 1780 zieht es ihn nach Frankfurt. Hier will der 28jährige sein maurerisches Netzwerk nützen, das tatsächlich beeindruckend groß ist, um gesellschaftlich voran zu kommen.
In der Frankfurter Loge „Zur Einigkeit“ kommt er mit Adam Weishaupt
(1748-1830) in Kontakt, dem Gründer des Illuminatenordens. Weishaupts Ziel ist
es, die Gedanken der Aufklärung durch gebildete Illuminaten verbreiten zu
lassen, die bei Hofe oder in der Gesellschaft wichtige Positionen innehaben
bzw. in solche vorrücken sollen. Knigge ist hingerissen! In kürzester Zeit wird
er zum Wortführer der Frankfurter Illuminaten, er ist sicher, seinen
Korrespondenzverein gefunden zu haben. Zwei Dinge faszinieren ihn: die
konspirative Grundidee und die Möglichkeit, all sein Wissen in die Entwicklung
eines – wie
ihm scheint – idealen Aufklärungsvereins zu stecken, den er gedenkt,
freimaurerisch auszugestalten.
Weishaupt lässt Knigge lange Zeit im Unklaren darüber, wie es um seinen Illuminatenorden bestellt und wie weit er 1780 gediehen ist. Als er ihm eines Tages eröffnet, dass es weder eine Ordnung noch ausformulierte Mittel- und Hochgrade gäbe, ist Knigge keineswegs enttäuscht, sondern legt nun erst richtig los. Er initiiert zahlreiche Illuminatenzirkel, schafft es, an die 500 Mitglieder und Interessenten zu rekrutieren und stürzt sich in die Entwicklung eines „Ordensgesetzes“ samt ausdefinierter Hochgrade. Stolz verkündet er in einem Rückblick auf seine Arbeit am Ordensgesetz, dass er alles, vom Minerva-Kult über die Templer bis zu seinen mystischen Studien in diese Arbeit „hineingepackt“ habe. Weishaupt plädiert für eine Verschiebung der Verbreitung! Knigge hat jedoch Teile des Ordensgesetzes bereits in Umlauf gebracht, um Mitglieder anzuwerben. Das Verhältnis der beiden gerät in Schieflage. Außerdem erheben angeworbene Mitglieder Anspruch auf einen Hochgrad oder zumindest eine Verbesserung ihrer Karrierechancen in der Gesellschaft – und alle wenden sich mit ihren Anliegen an Knigge, der sich als Vorzeige-Illuminat weit in die Öffentlichkeit vorgewagt hatte. Knigge erbittet Rückendeckung von Weishaupt, die er nicht erhält, und so wendet er sich wieder verstärkt der Freimaurerei zu.
1782 fordert er auf dem großen Freimaurer-Konvent in Wilhemsbad eine „gewisse Vereinheitlichung“ aller Freimaurersysteme auf den unteren drei Graden, die Arbeit an gemeinsamen Zielen, das Verbot von Geldzuteilungen an Hochgrade, die Wahl von Meistern & Direktorium durch die eigene Loge und die Abschaffung von „Vorzügen“ der oberen Grade gegenüber den Niedriggraden. Trotz einigen Aufsehens zieht Knigges schriftliche Eingabe beim Konvent keinerlei Konsequenzen nach sich.
Knigge wirkt nun an der Gründung weiterer Logen mit, schreibt für sie Konstitutionen und nimmt in einer Heidelberger Loge das Amt des Redners ein. Dieses Amt ist der letzte Hinweis auf ein Amt Knigges in der Freimaurerei. Wenige Jahre später wird er eine Polemik gegen die Maurerei herausbringen (und gleichzeitig über eine Neukonzeption nachdenken). Auch die Zusammenarbeit mit Weishaupt scheitert. Knigge nennt die Aufnahme von Fürsten in den Illuminatenorden als Grund für das Zerwürfnis. Auch Weishaupt betreibt mit anderen Knigges Abgang, um seinen Rivalen loszuwerden bzw. Knigges feurige Aneignung „seines“ Ordens ein für allemal zu beenden – genau wird man das nie wissen. Knigge kehrt neuerlich samt Gattin nach Nentershausen zurück und verarbeitet seine Zeit mit den Illuminaten in einem Roman. („Die Verirrungen des Philosophen oder Geschichte Ludwigs von Selenberg“)
1788 – Knigge ist nun 33 – erscheint sein Buch „Über den
Umgang mit Menschen“ – eine wortgewaltige, kluge, psychologisch
informierte Analyse der gesellschaftlichen Situation in Deutschland inmitten
von Aufklärung und gesellschaftlichem Umbruch. Sehr vieles davon liest sich
auch heute noch flüssig und schlüssig. Vorgestrig wirken nur Knigges Passagen über
Frauen und Kinder. Der „Umgang“ hat augenblicklich Erfolg, noch im
gleichen Jahr und im Jahr darauf erfolgen Nachdrucke.
Doch die Schatten der Illuminaten sind lang. 1783 veröffentlicht die bayrische Regierung etliche Originalschriften der Illuminaten, um sie zu outen (auch wenn nur die Ordensnamen darin enthalten sind). 1785 wird der Orden in Bayern verboten, Weishaupt verliert seine Professur und flieht. Zahlreiche Kurfürsten erlassen scharfe Edikte gegen Geheimbünde. Und Knigge gerät langsam ins Visier der Geheimpolizei. Er verfasst einen Rechenschaftsbericht, der mit einer Absage an jedes Geheimwesen endet. 1787 ist er jedoch bereits wieder Mitglied in der „Deutschen Union“, einem geheimen Korrespondenzverein, deren Vorsitzender bald darauf verhaftet wird, was das Ende des Vereins bedeutet.
1792 erhält der 40jährige endlich in Bremen eine Anstellung als Oberhauptmann. Er lebt in einer herrschaftlichen Dienstwohnung, hat ein gutes Verhältnis zu seinen Vorgesetzten und diskutiert mit seinen Hamburger Freunden über die Französische Revolution.
Als 1793 Ludwig XVI hingerichtet wird, fallen viele intellektuelle Kampfgefährten in eine Art Schockstarre. Keiner hatte eine blutige Revolution gewollt, alle hatten von einem großen Reformwerk geträumt. 1795 verfasst Knigge ein „Manifest“ über den idealen Staat und den idealen Gesellschaftsvertrag. Hierin distanziert er sich von aller Geheimniskrämerei und proklamiert die Notwendigkeit, erneut seine Idee des patriotischen Korrespondenzvereins, den er noch zu gründen verspricht und der sich der Verbreitung aufgeklärter Nachrichten widmen solle. Zu diesem Zeitpunkt arbeitet Knigge bereits von einem Bettwagen aus, den Bedienstete schieben. Doch das tut seiner Korrespondenztätigkeit keinen Abbruch. Er schreibt und schreibt und schreibt – als spürte er sein nahendes Ende.
Knigges Polemiken gegen Hofadelige und sein Engagement für Geheimbünde, allen voran seine prominente Rolle bei den Illuminaten, rücken ihn nun endgültig ins Scheinwerferlicht misstrauischer Behörden. 1795 wird er sogar auf einer Dienstreise festgesetzt, weil seine Vorgesetzten befürchten, er könnte den herannahenden Franzosen die Stadt Bremen aushändigen. Im gleichen Jahr versucht ihn die Wiener Geheimpolizei in einem Schreiben unter dem Namen des Ex-Illuminaten Aloys Blumauer in eine Falle zu locken, um ihm Namen von Revolutionsbefürwortern zu entlocken. Knigge beginnt tatsächlich, mit Blumauer zu korrespondieren. Doch bevor er allzu viel verraten kann, stirbt er 44jährig am 6. Mai 1796 in Bremen.
„Der Knigge“ – ein Name, ein Missverständnis
Knigge hatte nie vor, ein Komplimentier-Buch zu schreiben. Im Gegenteil! Seine Ambition war es, eine Sozialtechnologie für den dritten „Stand“ zu verfassen, basierend auf seinen eigenen Erfolgen und Misserfolgen bei Hofe und in den Reichsstädten. Dabei dient ihm der Hofadel als Negativschablone für seine Verhaltensratschläge an das Bürgertum unter dem Motto: so nicht!
Selbst- und Menschenbeobachtung sind Knigges herausragendste Talente. Er beschreibt minutiös wie die deutsche Gesellschaft in Reichsstädten, am Land und an den Höfen tagtäglich funktioniert. Und wie und mit welchen Mitteln es dem Bürgertum gelingen kann, in dieser Welt voranzukommen. Will man die Machtverhältnisse, vor allem die unausgesprochenen Regeln des Ancien regime verstehen, so gibt es keine bessere Lektüre als Knigges Umgangslehre. Knigge hört und sieht alles, das Gesagte und Ungesagte, das Gemeinte und Geahnte, die ungeschriebenen Gesetze adeliger Salondominanz und die Ahnungslosigkeit des Bürgers ohne Deutungshoheit. Oft, so glaubt man zu erkennen, kennt Knigge sogar beide Seiten, die Arroganz des Adeligen gegenüber seinem Bedienten und die Rolle des sozial depravierten Bittstellers bei Hofe. Gerade deswegen sind seine Beobachtungen so wertvoll. „Als praktischer Hofmann“, so einer seiner Biographen, „hat er (…) völlig versagt, als ‚Hofmaler‘ war er jedoch gefürchtet, da seinem sicheren, genauen Blick nichts entging“. Dabei versteht sich Knigge als Antipode Kants, den er dafür angreift, nichts für das konkrete Fortkommen des Bürgertums zu tun, sondern nur an unabänderlichen Gesetzen zu basteln; kritisch hatte er sich früher schon über Goethe und Schiller geäußert, denn Knigges „Gesetze der Weltklugheit“ sind Kompromissformeln für ein Leben in zwei Welten, dem Ancien regime und dem aufkommenden bürgerlichen Zeitalter.
Als freischaffender Schriftsteller ist er von bürgerlichem Bewusstsein erfüllt, als Freimaurer treibt er die Demokratisierung der politischen Verhältnisse voran; als Höfling scheitert er und seine Polemiken gegen „Hofschranzen“ und „Wortpinsel“, also die Entourage von Fürsten und hochstehenden Persönlichkeiten, dienen ihm dazu, dem nach wie vor dominanten Hofadel die Maske vom Gesicht zu reißen, wie er schreibt. Die Fürsten greift Knigge nie an, schließlich will er sein Leben behalten – und sie außerdem für sein Reformwerk gewinnen. Knigges Sittenbild der adeligen Lebenswelt macht Enttäuschungen bei Hofe antizipierbar und trainiert den illusionslosen Blick des Bürgers auf die geltenden Verhältnisse. Das, so Knigge, solle den Bürger ertüchtigen, seine Ideale beharrlich zu verfolgen und seine Ziele zu erreichen – über alle Rückschläge hinweg.
Gesellschaft wird in Knigges Umgangslehre als System von Menschen mit rollenspezifischen Verhaltensformen skizziert – und nicht als gottgewollte Ordnung; eine attraktive Vision für den gebildeten Mittelstand. Attraktiv ist das Umgangsbuch zu seiner Zeit aber auch wegen der vielen Anekdoten, Knigges populärem Bildungsdeutsch und der Ernsthaftigkeit, mit der er das aufklärerische Projekt vorantreibt. Seine Strenge, seine moralische Selbstgerechtigkeit und seine Unerbittlichkeit gegenüber dem „mittleren Management“ an deutschen Höfen lassen ihn zum Wort- und Anführer eines Bildungsbürgertums werden, das immer mehr auf gesellschaftliches Fortkommen und ökonomischen Erfolg pocht. Deshalb wird er gelesen. Deshalb wird er bewundert oder belächelt, je nachdem. Deshalb wird er bekämpft.
Im Unterschied zu Knigges lebenslangem Bemühen um den Aufstieg des „tüchtigen Bürgers“, tut er sich mit Frauen schwer. Er betont immer wieder, dass es über Frauenzimmer kaum etwas zu sagen gäbe, da die Natur deren Aufgaben definiere. Und auch als Vater einer einzigen Tochter, die er vor allem gut zu verheiraten trachtet, und als Gatte einer Ehefrau, die jeden Umzug und jede Grille mitvollzieht, zeigt er wenig Empathie. Dennoch lesen wir, dass Ehefrau und Tochter in die maurerischen Geheimnisse eingeweiht waren und bei Besuchen maurerische Symbole an ihren Kleidern trugen. Außerdem dürfte seine Frau viele seiner maurerischen Manuskripte kopiert, lästige Besucher abgefangen und seine Korrespondenz gemanaget haben. Aus seinen Briefwechseln mit Freunden erfahren wir jedoch, dass Knigge in seiner Ehe unglücklich war und sich oft beschwerte, seine Frau würde ihm ständig Vorwürfe über seine Fantastereien machen. Wen wundert’s – möchte man gerne ergänzen.
So wenig Knigge über bürgerliche Frauen zu sagen hat, so gern polemisiert er über die„Schöngeisterey und Affektiertheit“ der Salondamen, ihre „Intrigen und Verwirrungskünste“. Dabei wissen wir, dass er an mehreren Höfen anziehende Baronessen auszumachen verstand und sich ihnen wiederholt zu Füßen warf. Allein, die Damen fanden keinen Gefallen an ihm. In jedem Roman Knigges, der einen Mann auf der Flucht vor ungerechter Verfolgung zeigt, sind bösartige Weiber von Stande am Werk, die mit sicherer Hand Intrigen schmieden. Der arme Herr Knigge, im adeligen Salon, dem Jagdrevier der hochgeborenen Verführerinnen, haben ihm bürgerliche Strenge und maurerische Männlichkeit offensichtlich nichts genützt. Das lag vermutlich auch daran, dass die meisten adeligen Salonieren mit dem bürgerlichen Aufklärer keinerlei gesellschaftliches Terrain teilten, weder Sprache noch Stil oder Ton.
Mit dem Untergang des Ancien regime verschwanden die mächtigen Hofdamen und Konkubinen allmählich von der Bildfläche, und die Bürgerinnen unter ihren Hauben. Bevorzugte Lektüre: Frauenzimmeralmanache und Knigges Umgangsbuch, nun schon jeder Welterklärung entledigt, dafür spießig, sperrig formuliert und uninspiriert. Kein Wunder, dass es noch über 100 Jahre dauern sollte, bis auch die Bürgerinnen nach Emanzipation riefen.