HIRAM – Keine Biographie
Br. Rudi H.
Baustück vom 23.02.6023
Wie der Titel meines Baustücks verrät, geht es heute nicht um die Biographie einer historischen Persönlichkeit, und das hat einen einfachen Grund: Im Alten Testament begegnen uns nämlich zwei Protagonisten mit dem Namen Hiram, die offensichtlich nicht verwandt sind und deren historische Existenz kaum fassbar ist. Da ist zunächst Hiram, der König von Tyros, der als Zeitgenosse König Davids im Buch Samuel erwähnt wird. Für uns wichtiger ist jener Hiram, der ebenso aus Tyros in Phönizien stammte und als Metallhandwerker unter König Salomon für den Bau des Tempels verantwortlich war.
Mehrere Stellen im Alten Testament beziehen sich auf diesen Baumeister und bis heute kommt Hiram und dem Salomonische Tempel, der allerdings in der Römerzeit zerstörte wurde, in der jüdischen Tradition eine zentrale Bedeutung zu. Mit der Ausbreitung des Christentums entstanden ab dem Mittelalter und vermehrt in der Gotik architektonisch aufwändige Sakralbauten. Da es in der Tradition der christlichen Bauhütten keine Persönlichkeit gab, die als Stammvater geeignet gewesen wäre, wurde der Baumeister des Salomonischen Tempels auch zum Ahnherrn der Konstrukteure der gotischen Kathedralen. Unabhängig von den Bibelstellen, die keine Auskunft über Hirams persönliches Schicksal geben, begannen sich zu einem heute nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt Legenden um sein Leben und Sterben zu ranken. Hiram als Baumeister des Tempels fand Eingang in mehrere Schriften, die als Regelwerke für die gotischen Bauhütten anzusehen sind. Diese bilden ihrerseits die frühesten Quellen für das Entstehen der spekulativen Freimauerei.
Wenn heute in der Loge von den Alten Pflichten die Rede ist, denken wir an die Konstitutionen des Reverend Anderson aus dem Jahr 1723. In der fm. Forschung wird dieser Begriff weiter gefasst. Es wird damit ein Bestand von ungefähr 130 Dokumenten bezeichnet, deren älteste auf das 14. Jahrhundert zurückgehen und in denen allgemeine Regeln für die Organisation der Dombauhütten festgelegt wurden. Für unser Thema sind diese frühen Quellen interessant, da hier zum ersten Mal der Bau des Salomonischen Tempels mit den Prinzipien der spekulativen Maurerei in Verbindung gebracht wird. In einigen dieser ausschließlich englischsprachigen Quellen wird Hiram namentlich genannt, in anderen wird nur allgemein vom „master of all masters“ gesprochen. Noch verwirrender wird die Angelegenheit wenn wir im Manuskript Harris Nr. 1 (vermutlich vor 1481) lesen, der Baumeister wäre der „Sohn von Hyram, König von Tyros“ gewesen. Abgesehen davon enthält diese Quelle jedoch eine Begriffsdefinition, die für die Entstehung der spekulativen FM wichtig ist. Sie lautet in Übersetzung:
Dabei ist es scheinbar so, dass die Geometrie, die nun Freimaurerei (Free-Masonry) genannt wird, eine Kunst oder Wissenschaft ist, die über allen anderen steht, die auf ihr aufbauen.
Harris setzt also die Begriffe Geometrie und Freimaurerei auf dieselbe Stufe. Da die Geometrie eine der Artes Liberales, also der sieben Freien Künste war, könnte das die Entstehung des Begriffs Freimaurerei erklären. Laut dieser Quelle bildeten die Meister-Maurer eine eigene Berufsgruppe, sie beherrschten die Geometrie und waren für die Entwürfe und nicht für deren Ausführung verantwortlich. Der Weg zur Spekulativen Freimaurer war damit geöffnet.
Seit der Gründung der ersten Großloge im Jahr 1717 ist Hiram als Baumeister des Salomonischen Tempels unverzichtbarer Teil der freimaurerischen Gedankenwelt. Wann die Legende, die sich um sein Sterben rankt, in die Ritualtexte Eingang fand, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. In den 1723 gedruckten Old Charges wird Hiram als Baumeister erwähnt, die Legende teilt uns Anderson jedoch nicht mit. Trotzdem dürfte sie damals bereits Bestandteil von Ritualtexten gewesen sein, da sie in Pritchards „Verräterschrift“ aus dem Jahr 1730 im Meisterritual erzählt wird.
Kurz eingehen möchte ich auf ein erstmals 1764 in London erschienenes Buch mit dem Titel „Hiram: Or The Grand Master-Key to the Door of Both Antient and Modern Free-Masonry“.
Der Druck ist für uns von Interesse, da die darin wiedergegebene Hirams Legende möglicherweise das Vorbild für Schröders und in weiterer Folge für unsere Version bildet. Im Londoner Druck ist die Legende Teil der Belehrung bei der Meistererhebung und die Erzählung weicht nur in einigen wenigen, aber nicht uninteressanten Punkten von unserer ab. So erfolgt der Angriff der drei mörderischen Gesellen nicht mit Hämmern, sondern mit folgenden Werkzeugen: der erste Geselle benützt einen 24-zölligen Maßstab, der zweite verwendet ein Winkelmaß und nur der dritte, letale Schlag wird mit einem „Setting Maul“, einem hölzernen Schlägel, mit dem die Steine positioniert wurden, ausgeführt.
Abweichend ist auch die Reaktion der Gesellen beim Auffinden von Hirams Leiche. Sie heben die Hände und rufen: „O Lord my God!“, was somit zum neuen Meisterwort wird.
Schröder folgt in seiner Version weitgehend diesem englischen Ritual. Manche Textstellen sind eigentlich Übersetzungen, bei den Anweisungen für die handelnden Personen ist Schröders Version jedoch viel ausführlicher. Diese Regieanweisungen weisen Schröder als routinierten Theatermensch aus. Einige dieser Details möchte ich mit euch teilen, und Sr. Susanne wird mich dabei unterstützen.
Da wäre zunächst die Lage von Hirams Leichnam nach der Ermordung durch die Gesellen. Schröder beschreibt sie folgendermaßen:
Der Erste Aufseher legt ihn so, daß der linke Arm gerade am Leibe herunter und das linke Bein ausgestreckt liegt. Der Zweite Aufseher legt die rechte Hand des zu Erhebenden auf dessen linke Brust, das rechte Bein beugt er so, daß die Sohle auf dem Fußboden steht.
Ausgehend von dieser Position ist es anschließend leichter, Hiram mit den fünf Punkten der Meisterschaft zu heben.
In unserem Ritual fehlt jene Passage, in der es um die Entdeckung der Möder geht und der Schröder als Dramatiker weiten Raum gibt:
Hiram wurde bald vermißt, und Salomo stellte vergebliche Nachforschungen an, bis die zwölf Gesellen, die den Vorsatz bereut hatten, zum Zeichen ihrer Unschuld mit weißen Schürzen und Handschuhen angetan, vor den König traten und ihm entdeckten, was sie wußten. Salomo schickte sie aus, die drei Mörder zu suchen, welche die Flucht ergriffen hatten. Einer von den Ausgesendeten, der ermüdet an der Seite eines Felsens ruhte, hörte aus einer Kluft Wehklagen:
Oh, dass eher meine Gurgel durchschnitten wäre, ehe ich teil an dem Morde unseres Meisters nahm!
Und wieder vernahm er ein anderes Jammern:
Oh, dass eher mein Herz aus meiner Brust gerissen worden wäre, ehe ich die frevelnde Hand an unseren Meister legte.
Und zum dritten Mal hörte er stöhnen:
Oh, dass man eher meinen Körper in zwei Teile geteilt hätte, ehe ich den teuren Meister erschlug!
Der Geselle holte seine Gefährten; sie stiegen in die Kluft, fanden die Mörder, griffen und schleppten sie vor Salomo. Die Übeltäter bekannten ihre Tat, verlangten den Tod und erhielten ihn durch die selbstgewählten Strafen.
Hierauf sandte Salomo einige Meister aus, um Hirams Körper aufzusuchen, damit er an heiliger Stätte begraben würde.
Der weitere Verlauf mit den drei Rundgängen um das Grab entspricht unserem Ritual, beim Aufdecken des Tuches finden wir folgende Anweisung:
Der Zweite Schaffner nimmt dem zu Erhebenden rasch das Tuch ab, darauf machen alle Brüder das Erstaunungszeichen und treten dann in das Meisterzeichen.
Schröder erwähnt dieses Erstaunungszeichen auch im anschließenden Katechismus, ohne uns allerdings eine klare Vorstellung von seiner Ausführung zu geben:
Das zweite Zeichen ist das Erstaunungs- oder große Meisterzeichen, welches nur bei Erhebungen gebraucht wird.
Wie vielerlei Zeichen haben die Meister?
Zweierlei: Das Meisterzeichen und das Erstaunungszeichen. Das erste bezieht sich auf die Verpflichtung und das zweite auf die Geschichte.
Für die Erhebung Hirams gibt Schröder folgende Anweisungen:
Meister zum 2. Aufseher:
Mein Bruder! Versuchen Sie Ihre Kraft, den Körper aufzuheben.
Der Zweite Aufseher ergreift den Liegenden bei dem Zeigefinger der rechten Hand, lässt diesen durchschlüpfen und spricht:
Jakin! Die Haut verlässt das Fleisch!
Meister zum 1. Aufseher:
Mein Bruder! Versuchen Sie denn Ihre Kraft!
Der Erste Aufseher fasst den Liegenden bei dem Mittelfinger der rechten Hand, lässt diesen durchschlüpfen und spricht:
Boas! Das Fleisch verlässt das Bein.
Meister:
So will ich es versuchen, ihn durch die fünf Punkte der Meisterschaft zu heben.
Er setzt seinen rechten Fuß gegen den rechten Fuß des Liegenden und stellt Knie gegen Knie. Mit der rechten Hand fasst er dessen rechte Hand über dem Faustgelenk und zieht ihn zu sich empor, so dass Brust gegen Brust steht. Der Meister legt die linke Hand um die Schulter des Erhobenen und flüstert ihm halblaut in das eine Ohr: Macbenach, und leiser in das andere Ohr: Er lebt im Sohne! Das Wort Macbenach wird dabei von allen Brüdern halblaut nachgesprochen.
Durch das neue Meisterwort und durch die fünf Punkte der Meisterschaft erkläre ich Sie zum Freimaurer-Meister.
Er berührt die Gurgel des Erhobenen mit dem Hammer.
Zur Ehre des Großen Baumeisters aller Welten!
Er berührt die linke Brust des Erhobenen.
Im Namen der Vereinigten Großlogen von Deutschland.
Er berührt die Stirn.
Und kraft meines Amtes als Meister vom Stuhl der Loge …
Alle Brüder vollenden das Meisterzeichen und setzen sich.
Nach der Erhebung folgt eine Belehrung, bei der ebenfalls auf die Symbolik eingegangen wird:
Wie heißt das Paßwort der Meister?
Tubal Kain. Es bezeichnet den Übergang von der zweiten zur dritten Stufe. Viele Logen gebrauchen es bereits im ersten Grade; sie haben deshalb im Meistergrade teils Giblim, teils Cassia angenommen.
Wie klopfen die Meister?
Mit drei langsamen Schlägen, deren letzter verstärkt wird.
Worauf deuten sie hin?
Auf Hirams Todesschläge
Und die drei Meisterschritte?
Auf Geburt, Leben und Tod.
Nach dieser Zusammenfassung einiger Passagen aus Schröders Ritual möchte ich abschließend der Frage nachgehen, warum diese Legende eine so prominente Stellung in unserem Ritual erlangen konnte. Abgesehen von der Dramatik, die der Hirams-Legende zugrunde liegt, enthält sie eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten zur freimaurerischen Symbolik, zu Ritualtexten und zu unseren ethischen und moralischen Zielsetzungen als Nachfolger Hirams. Knapp zusammengefasst und ohne Anspruch auf Vollständigkeit möchte ich folgende Stichworte nennen:
Hiram ist der Baumeister des wichtigsten Sakralbaus der jüdisch / christlichen Glaubenswelt
Der Ablauf des Baus ist arbeitsteilig organisiert, und basiert auf einem hierarchischen System
Hiram verfügt über ein Wissen, das ihn an die Spitze dieser Hierarchie stellt
Er hütet ein Geheimnis, das er auch im Tod nicht preisgibt
Fünfzehn Gesellen sind neiderfüllt und wollen aus niederen Beweggründen die hierarchische Struktur gewaltsam überwinden
Zwölf Gesellen schrecken zurück
Drei Gesellen sind zu einem Kapitalverbrechen bereit
Die drei Gesellen laden schwere Schuld auf sich, können durch das Verbrechen jedoch nichts gewinnen
Nach dem Mord versuchen sie zu entkommen, sie werden entdeckt und bestraft
Der Dornenzweig, der Hirams Grab markiert, verwandelt sich in einen grünen Akazienzweig (diese Passage fehlt bei Schröder)
Die Transformation von toter zu belebter Materie, die sich am Zweig vollzieht, wird bei Hirams Erhebung wiederholt
Diese Erhebung ist der dramatische Höhepunkt der Erzählung und bildet die Vollendung des Dritten Grads und somit die höchste Erkenntnisstufe der Johannismaurerei. Der Legende nach befand sich Hirams Köper bei der Auffindung bereits im Zustand der Verwesung. Auf drastische Weise wird im Ritual angedeutet, dass sich die Haut und das Fleisch vom Knochengerüst lösen. Trotzdem kann der Meister durch die fünf Punkte der Meisterschaft Hiram heben. Diese Transformation hat dazu geführt, dass in christlich ausgerichteten Logen die Erhebung Hirams mit der Auferstehung Christi verglichen wurde. Dabei wird jedoch übersehen, dass zwischen den beiden Erzählungen ein wesentlicher Unterschied besteht. Glaubt man der christlichen Lehre, ist Jesus „von den Toten auferweckt“ worden, indem sein Leib in den Himmel aufgefahren ist. Die Jünger Jesu öffneten das Grab und dieses war leer. Im Gegensatz dazu fanden die drei Gesellen den Leib Hirams im Stadium der Verwesung. Es handelte sich somit nicht um eine fleischliche Auferstehung, sondern um eine spirituelle Transformation, bei der der Geselle zum Meister wird. Diese Verwandlung erfolgt in einem stufenweisen Prozess: Am Beginn unseres Rituals betreten der oder die zu Erhebende den Tempel als Geselle. Danach wird der Geselle in die Rolle Hirams versetzt. Er erleidet symbolisch dessen Tod und wird mit dem Prozess der Verwesung konfrontiert. Erst danach, wenn der Geselle der Vergänglichkeit anheimgefallen ist, erfolgt die „Erhebung“. Durch diese rituelle Transformation wird uns anschaulich vor Augen geführt, dass mit der Aufnahme in den höchsten Grad der Geist Hirams in uns weiterlebt. Und damit schließt sich der Kreis zum eingangs gesagten: In der spekulativen Freimaurerei ist der Meister für die Geometrie, also für den Entwurf des Werks verantwortlich. Im Gegensatz zu den Baumeistern des Salomonischen Tempels verbleiben wir jedoch immer auch im 1. Grad und sind somit weiterhin für die Ausführung verantwortlich. Aus diesem Grund erinnert uns das Schlussritual nach jeder Arbeit:
„So wie hier drinnen durch das Wort, im Leben durch die Tat.“
Aus eigener Erfahrung und aus Gesprächen mit Geschwistern weiß ich, dass unser Erhebungsritual eine besondere Qualität aufweist dass es etwas auslöst und für viele ein entscheidender Moment in der freimaurerischen Laufbahn ist. Die heutige Diskussion würde ich gerne zum Anlass nehmen, die persönlichen Eindrücke und Erinnerungen an eure Erhebung zurückzuholen und zu reflektieren, wie ihr diesen Moment des Todes empfunden habt.
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Kettenspruch (Schröder)
Was aus dem Staub geboren,
Muß wieder werden Staub;
Der Geist ist nicht verloren,
Nicht der Verwesung Raub.
Er ist ein ew’ger Hauch aus Gott
Und sieget über Zeit und Tod.
Laßt denn die Blätter fallen,
Die Blumen nur verblühn;
Laßt jede Freud’ verhallen,
Die Lust vorüberziehn!
Wir sind und werden ewig sein;
Der Tod ist Sieg und keine Pein.