Archaische Tabus – als Symbole in der Freimaurerei – Spaziergang durch den Tempel

Erna -Maria Trubel 21.09.2023

Alles, was ich kann, ist: die Geschichte zu erzählen.
Und das muss reichen.
Ein heiliger Mann begab sich an eine bestimmte Stelle
im Wald, um zu meditieren, Feuer anzuzünden und
zu beten, auf dass das Unglück von der Welt gewendet
werde. Einige Zeit später ging einer seiner Schüler
ebenfalls dorthin, aber er wusste das Feuer nicht anzuzünden,
und so betete er nur. Wieder einige Zeit später
hatte der Nächste das Gebet vergessen und wusste das
Feuer nicht anzuzünden; immerhin war er in der Lage,
die geheime Stelle im Wald zu finden. Und nach weiteren
Jahren sagte ein Schuler: „Ich kann das Feuer nicht
anzünden, ich kenne das Gebet nicht und nicht die Stelle
im Wald. Alles, was ich kann, ist: die Geschichte zu
erzählen. Und das muss reichen.“

via Prof. Ernst Strouhal, 15.12.2011: Eine alte aschkenasische
Legende, die Christian Boltanski (1944–2021) zur Eröffnung
seiner Ausstellung „Christian Boltanski Inventar“ erzählte.
(12. April – 9. Juni 1991 in der Hamburger Kunsthalle)


So ähnlich geht es uns mit Tabus. Wir kennen nur noch gesellschaftliche Tabus in Form
stillschweigender Regeln. Doch eine Fülle von archaischen, längst vergessenen Tabus, eine Vielzahlerloschener Werte werden heute nicht bewusst wahrgenommen. Mit diesen wollen wir uns heute beschäftigen, vor allem mit jenen Tabus, die im Laufe der Jahrhunderte die freimaurerische Ritual-und Symbolwelt beeinflusst haben.
Im kulturgeschichtlichen Kontext werfen Tabus ein besonders Licht auf eine durch Religionen,
insbesondere durch das Christentum geprägte europäische Kultur sowie auf eine Fülle von
archaischen Werten, die verbannt, verdrängt und ausgeschlossen werden mussten, um neu
entstandene Machtstrukturen nicht zu gefährden. Waren sie allzu einflussreich, bedrohlich oder
einfach faszinierend? Und wo finden wir diese heutzutage noch?
Erstaunlicherweise in der FM: hier gab es eine innere Gegensteuerung gegen die durch Kirche und weltliche Herrscher induzierte Werteverdrängung, die manches für so bedeutungsvoll hielt und dieses zu bewahren suchte. Der Erhalt und die Pflege solcher alten Traditionen diente der
Abgrenzung von anderen Kulturen und dem Schutz des masonisch Tradierten, förderte den
Zusammenschluss um das Eigene und sicherte damit auch den Zusammenhalt der Gruppe.


Begleitet mich nun auf eine Wanderung durch den Tempel, um einige der längst vergessenen Tabus aufzuspüren, die als Symbole oder als Bestandteil des Rituals ganz bewusst in die FM aufgenommen worden waren als bedeutsame Elemente, über die aus machtpolitischen Interessenlagen, oder religiös motivierten Gründen im Profanen nicht gesprochen werden sollten.
Doch bevor wir unsere virtuelle Wanderung durch den Tempel beginnen, und einen weiten Bogen schlagen, von tabuisierten Symbolen zu verpönten Gestalten, schulde ich Euch noch eine Erklärung zu diesem ambivalenten Begriff – dem Tabu selbst.

Was genau ist also ein Tabu?
Nun, Annäherungen an verworren erscheinende Themen beginnt man vornehmlich mit einer
Begriffsanalyse. Doch schon die etymologische Deutung dieses Wortes ist äußerst schwierig.

Ta bu kommt aus dem Polynesischen und könnte übersetzt „das intensiv Gemerkte, Gekennzeichnete“ bedeuten. Doch das allein – sagt uns jetzt wenig.
Deshalb möchte ich statt einer Definition, mit der schicksalhaften Entdeckung des Wortes Tabu
beginnen. Sie steht am Anfang eines langen Reiseweges, der im 18. Jahrhundert beginnen und von Polynesien in alle europäischen Sprachen führen sollte.


Nun zur Geschichte:
Es ist der 12. Juli 1776, wir befinden uns im Hafen von Plymouth). Der ethnologisch versierte Kapitän James Cook setzt im Auftrag der englischen Krone Segel zu seiner dritten Expeditionsfahrt in Richtung der Südsee-Archipele Tonga, Haiti und Hawaii. Indes ahnt er nicht, dass ihm diese Reise letztlich zum Verhängnis werden und er der Nachwelt einen schwer fassbaren Begriff – nämlich das Tabu hinterlassen würde.


Warum gerade Cook?
Als erster Südseeforscher beschränkte sich Cook in seinen Reiseberichten nicht auf die Beschreibung von Fauna, Flora und Geografie. Weitaus mehr war er von den Sitten und Bräuchen der indigenen Bevölkerung, insbesondere von einer tapu genannten rätselhaften Verhaltensweise fasziniert. Cook beobachtete, dass die Polynesier bestimmte Dinge, nicht berührten oder nicht erwähnten. Meist waren es religiöse, magische oder rituell begründete Meidungsgebote, die eingehalten werden mussten, um Unheil abzuwenden.
Cook selbst soll zwei Jahre danach – so der makabre Mythos um den berühmten Kapitän – auf Grund einer Tabuverletzung von Einheimischen auf Hawaii gelyncht, zerstückelt und somit einem Ritualmord zum Opfer gefallen sein.
Wie es dazu kam? Cook wurde von den Inselbewohnern als Jahreszeitengottheit zutiefst verehrt, doch als er nach seiner feierlichen Verabschiedung wegen des stürmischen Wellengangs mit dem Schiff umkehren musste, kam dies einem Tabubruch gleich. Die Europäer wurden als Sterbliche enttarnt. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen die brutal eskalierten.
Cook war tot, aber dank seiner Reiseberichte schaffte es der Begriff Tabu, im Eilschritt Eingang nach Europa zu finden. Es bot sich geradezu an, das Fremde, Irrationale und nicht Verstehbare in einem Ausdruck kompakt zu bezeichnen.
Eine Übersetzung scheiterte am Doppelcharakter des Begriffs, der einerseits etwas Heiliges,
Geschütztes und andererseits etwas Unreines, Unberührbares und Gefährliches bezeichnete. So behielt man einfach das exotische Lehnwort in allen indogermanischen Sprachen.
Nach diesem kurzen Exkurs wollen wir uns dem eigentlichen Anliegen zuwenden: Betreten wir nun gemeinsam den Tempel und lassen wir uns von den archaischen Tabus überraschen, die uns auf diesem Weg begegnen.

Aus dem Raum der verlorenen Schritte kommend, passieren wir die innere Türwache, danach auch die beiden Aufseher im Westen. Einst standen ja wirklich Wächter vor der Tür, bereit, die
Versammlung mit dem Schwert zu verteidigen. Warum betreten wir den Tempel im Westen?

Und schon sind wir beim ersten archaischen Tabu, aber wie kann der WESTEN ein Tabu gewesen sein? Schon im Mittelalter verband man mit dem Westen jene Himmelsrichtung, die dem Heil der aufgehenden Sonne entgegengesetzt war. Dort verortete man das Reich der Finsternis, des Bösen, den Sitz dämonischer Kräfte. Dementsprechend repräsentierte auch in den Kirchenbauten die Ostseite den sakralen Bereich, die Westseite hingegen war der profanen Welt zugewandt, von dort sollte sie ihre Aufgabe als Schutzherrin vor unbekannten oder bösen Mächten wahrnehmen.

Das frühe Christentum hielt am Prinzip der Ostung fest, sei es bei der Ausrichtung der Kirchengebäude, bei der Messfeier oder der Bestattung.
Da in der menschlichen Vorstellungswelt Gefahren und Dämonen immer vom Westen her zu
befürchten waren, brauchte es dort eine besondere Form der baulichen Abwehr. Eine dieser Formen findet sich in der frühmittelalterlichen Sakralarchitektur, wo sich das Westwerk zunächst als selbstständig vorgesetzter Bauteil von Kirchengebäuden herausbildete. In der Funktion einer Wehrkirche hatte dieses auch die symbolische Bedeutung eines Castellums, um das Kirchengebäude gegen Westen vor Fremden zu schützen. Das Westwerk war Zentrum und Symbol weltlicher Macht.
Auf Reisen diente es dem Kaiser als Aufenthaltsort, zuweilen auch als Gerichtsplatz und
Versammlungsort.
Die im Westen befindlichen Altare sind oftmals Erzengel Michael, dem Anführer der himmlischen Heerscharen und Bezwinger des Satans gewidmet. Er steht bereit, den Kampf mit den aus dem Westen andrängenden Mächten der Finsternis aufzunehmen. Unser Tempel wird symbolisch von der Türwache und den Aufsehern beschützt, die den alten Traditionen folgend ebenfalls im Westen verortet sind.
Vom profanen Westen haben wir nun nach Prüfung durch die Aufseher den Tempel betreten, die Grenze zwischen der profanen Welt und dem heiligen Raum. Zwischen den Säulen geben uns mit dem Zeichen und einer besonderen Schrittfolge „hinkend“ zu erkennen. Gelegentlich wird auch das Passwort verlangt.
Und schon sind wir beim nächsten tabuisierten Wort, bei Tubalkain – unserem Passwort des ersten Grades (Buch Moses Kapitel 4 überliefert) dem ersten Schmied, diesem virtuosen Beherrscher der Elemente und autonomen, evolutionären Tatmenschen.
Der große Schmied und das Hinken liefern uns dabei gleich zwei archaische Tabus: ein mystisches Handwerk und eine körperliche Versehrtheit. Beide stehen miteinander in enger Beziehung und bilden bis heute integralen Bestandteil der königlichen Kunst.
Die Schmiedekunst ist seit jeher mit kreativer Kraft, Magie, hermetischen Initiationsriten,
wundersamen Heilungen und der Verbindung mit der jenseitigen Welt verschmolzen. Durch die Nähe zum unterweltlichen Feuer soll sogar der Teufel selbst in die Rolle des Schmiedes schlüpfen.
(Montangeschichtlich gesehen stehen hier allerdings nicht so sehr die Schmiede, als vielmehr die Erzschmelzer im Vordergrund.)
Dank ihrer außergewöhnlichen Kunst genossen Schmiede zwar hohes Ansehen, wurden aber – als Grenzgänger gottgefälligen Handelns – auch gleichzeitig gemieden, lebten als Außenseiter, als Paria der Gesellschaft, meist an entlegenen Orten.
Dem Schmied wurden aber auch heilende Kräfte nachgesagt. Im Volksglauben begegnet uns dieser geheimnisvolle Zauberer auch als starker und unerschrockener Widersacher des Teufels. Es ist der Schmied, der den Gottseibeiuns das Fürchten lehrt und nicht umgekehrt. Seine Kraft kommt aus seinen eigenen Fähigkeiten und seinen Werkzeugen.

Erhalten hat sich in Tirol und Böhmen ein verbreiteter Brauch, drei kalte Schläge mit dem Hammer auf den Amboss zu machen, um den Teufel und böse Dämonen zu bannen.

Verbindendes Merkmal dieser mit handwerklichem Geschick begnadeten Schmiedegötter waren oft Makel: sie litten an körperlichen Gebrechen, lahmten, waren unansehnlich und von Unglück verfolgt.
Wir kennen sie aus der alten Götterwelt. Ob nun Hephaistos, Vulcanus, Donnergott Thor oder
Wieland der lahme Schmied (der germanischen Heldensage) – keiner entkam diesem Schicksal. Die Asymmetrie des Ganges – das Hinken – konnte sowohl Ausdruck einer Schwäche als auch ein Hinweis auf übernatürliche Kräfte sein.
Woher aber kam diese häufige körperliche Behinderung? Der Historiker Lottermann hält die makabre Vorstellung für möglich, dass Schmiede als unentbehrliche Handwerker absichtlich verstümmelt wurden, um sie in Kriegszeiten verlässlich an der Esse zu halten. Immerhin lieferten sie Rüstungen, Schwerter, Helme, schärften, reparierten Geräte und waren für das Herstellen von eisernen Wagenbeschlägen und Hufeisen verantwortlich. Lahm und hinkend konnten sie nicht zum Feind überlaufen und damit ihrem bisherigen Lehensherren Schaden zufügen.
Aus heutiger medizinischer Sicht ist das Hinken der Schmiede – verursacht durch Lähmung und
Verkrüppelung der Beine – mit höchster Wahrscheinlichkeit auf eine schleichende und chronische Arsenvergiftung zurückzuführen. Dieser giftige Bestandteil der Erdkruste wurde Kupferlegierungen als wichtige Zutat beigemischt, um diese dadurch besser verarbeiten zu können.
Wie sehr körperliche Missbildungen schon im Alten Testament tabuisiert waren, unterstreichen
Textstellen, wonach Lahme und Blinde vom Priesteramt ausgeschlossen waren und keinen Zugang zum Tempel hatten. So heißt es bei (Lev 21,18) beispielsweise „Lass keinen Blinden und Lahmen ins Haus kommen“ – als Neophyten betreten wir blind und hinkend den FM-Tempel.
In der rabbinischen Tradition offenbart sich Tubal-Kains durchwachsenes Prestige: Tubal ist der
Träger der Sünde Kains – Luzifers Sohn. Tubal ist nicht nur Schmiedemeister, sondern auch Erfinder von todbringenden Waffen, der damit den Ungehorsam seiner Vorfahren weiterträgt.
Die masonische Legende berichtet über Tubal-Kains außergewöhnliche handwerkliche Fähigkeiten, dank derer er der Sintflut entkam. Das Kains-Kind wurde zum Stammvater aller Erzarbeiter und Schmiede. Wie alle Nachkommen des Brudermörders, war er Handwerker, Schmied, Künstler und Schöpfer. Tubal-Kain zählt also zu den prominenten Versehrten und Hinkenden.
An dieser Stelle wollen wir jedoch einer grundsätzlichen Frage stellen: War Tubal Kain überhaupt versehrt, war er wirklich ein hinkender Schmied? Oder handelt es sich nicht vielmehr um eine legendäre Zuschreibung, die sich aus seinem Beruf und seiner umstrittenen Abstammung im Laufe der Zeit entwickelt hat? Weder Im Alten Testament noch in der Ikonographie stößt man auf irgendeinen Hinweis zu seiner Behinderung. Mehr dazu gibt es in meinem Buch, dazu findet ihr eine von vielen Abbildungen Tubalkains, S. 67, die ihn als kräftigen vor Gesundheit strotzenden Burschen zeigt. (Andrea di Bonaiuto da Firenze Fresco 1365).


Sonne Mond:
Lasst uns unseren Rundgang durch den Tempel weiter fortsetzen und begleiten wir die Lehrlinge zu ihren Plätzen im Nordosten, wo sie der aufgehenden Sonne, dem Licht, das bei uns für Erkenntnis steht, am nächsten sind. Die mit dem Lichtkult zusammenhängende Gestirnsymbolik kommt im Tempel in der Verehrung des Ostens zum Ausdruck. Der Weg dorthin führt immer im Sonnenlauf. Der Tempel ist symbolisch stets nach Osten – zum Licht – ausgerichtet. Der MvSt hat dort seinen Platz.
Selbst im Tod verbleibt die Orientierung nach der Sonne. Auf dem Weg zu seiner Vollendung, seinem letzten Weg, geht ein Freimaurer „in den ewigen Osten“ ein.


Nun fragen wir uns: Sollten die Himmelsgestirne auch archaische Tabus sein?
In zahlreichen Hochkulturen wurde die Sonne als Gottheit verehrt, durch magische Rituale
heraufbeschworen. Denken wir nur an die geheimnisvollen Steinsetzungen von Stonehenge, bis zu Gottheiten wie Apollon, Mithras, Freyr oder Baldur – sie alle spiegeln die Sonne als Symbol höchster kosmischer Macht und Wiedergeburt, das sich jeden Morgen neu erhebt und nächtens in das Totenreich hinabfährt.

Aber auch weltliche Herrscher traten gern in der Glorie der Sonne auf, seien
es Ludwig der XIV. oder der japanische Tenno.
Sonne und Mond waren faszinierende göttliche Wegweiser, denen einst uneingeschränkt gehuldigt werden musste. Schon bei Hesiod im späten achten Jahrhundert v. Chr. findet sich die tabuisierende Regel, sein Bedürfnis niemals gegen die aufgehende oder gegen die untergehende Sonne zu verrichten, sondern sich dazu jeweils umzudrehen.
Auch der Mond-Kult genoss in der Bevölkerung Israels und Judas große Bedeutung, drang immer wieder in Israels monotheistische Gottesverehrung ein und war noch über die Exilzeit hinaus virulent
Daher sahen sich die deuteronomistisch orientierten Verfasser alttestamentlicher Schriften
gezwungen, die Gestirne ausdrücklich ihrer göttlichen Kräfte zu berauben und diese auf Jahwe zu übertragen. Strenge Verbote der Gestirns-Verehrung waren die Folge, als Übertretung eines Verbots Jahwes und als Hinwegsetzung über den Bund mit Gott geahndet. Diese Vergehen waren im alten Israel häufig mit drastischen Strafandrohungen bis hin zur Todesstrafe verbunden.
Ebenso war auch die christliche Heilslehre gezwungen, Relikte heidnischen Sonnenkults zu tilgen oder – zur leichteren Integration – einer passenden Neuinterpretation zu unterziehen.
Denken wir nur an die Geburt Christi, die in die Zeit der Wintersonnenwende gesetzt wurde, dem Sonnenfest und legendärem Geburtstag des Sol invictus. Oder auch Ostern, das hohe kirchliche Fest der Auferstehung, dessen Bezeichnung auf Östarun Ostpunkt zu Frühlingsbeginn zurückgeht. Das Christentum konnte also nicht umhin, vorchristliche Kultformen der Sonnensymbolik in ihre religionsgeschichtlichen Erklärungsversuche zu integrieren. Nur unser deutsches Wort für Sonntag (auch im Englischen) konnte dieser Uminterpretation der Kirche standhalten. Dieser Tag war einst ausschließlich der Sonne gewidmet, enthielt eine verborgene Aufforderung ihrer zu gedenken, sie göttlich zu verehren. Erst als der dies solis im Römischen Reich zum gesetzlichen Feiertag bestimmt wurde, hat das Christentum diesen „Sonnentag“ akzeptiert, ihn sogleich mit christlicher Sinngebung erfüllt und zum Tag des Herrn gemacht (lat. dominica). In allen romanischen Sprachen wurde der Sonnentag damit zum Tag des Herrn.


Auch in der Rechtsprechung war die Sonne noch lange Zeit von hoher Bedeutung: als Zeugnis
altdeutscher Blutgerichte erscheint die feierliche Urteilssprechung höchster Instanz unter freiem Himmel. Diese Gepflogenheit liegt darin begründet, dass Rechtshandlungen unter der Sonne, dem Auge Gottes vollzogen werden sollten (lat. sub divo). Noch bis zum Jahre 1842 befand sich in der Decke des großen Hamburger Ratssaals eine Öffnung, damit die Sonnenstrahlen ungehindert eindringen konnten. Kaiser Maximilian I. erteilte der Stadt Wels das Privileg im Rathaus Blutgericht zu halten, doch musste das Urteil „bei klarem und hellem Himmel“ verkündet werden.
Kuriosem begegnen wir auch im deutschen Volksglauben, wo es untersagt war mit dem Finger nach dem Mond zu weisen, oder gar gegen den Mond spucken oder zu urinieren.


Unsere GG folgen dem Sonnenlauf ein Stück weiter und gelangen vom dunklen Norden in das volle Licht der mittäglichen Sonne, von der Geburt zum Leben, das der Süden symbolisiert. Sie arbeiten schon im vollen, starken Licht des Südens, das durch die südliche Öffnung auf die Gesellenkolonne fällt.

Verweilen wir noch einen Moment bei einem anderen starken, gebündelten Licht: beim Feuer am Beispiel der Flamme. Versetzen wir uns wieder zurück auf Beginn der rituellen Arbeit. Der Meister/in vom Stuhl und die beiden Aufseher:innen entzünden die kleinen Lichter der Weisheit, Stärke und Schönheit, die am Ende des Rituals in umgekehrter Reihenfolge wieder gelöscht werden. Gelöscht? Ja, mit Vorsicht, denn die Kerzen dabei auszublasen wäre ein kruder Tabubruch. Bis heute noch soll in feierlichen Momenten der gewaltsame Eingriff in das Leben des Lichtes vermieden, das Auslöschen der lebendigen Flamme nach Möglichkeit in sensibler und rücksichtsvoller Weise geschehen. Mit einem Löschhütchen, das über die Flamme gestülpt wird – und dies nicht um zu verhindern, dass Wachs auf den Boden tropfen könnte. Nein, die Flamme darf einschlafen, langsam erlöschen, bedachtsam wird
abgewartet, bis der im Hütchen enthaltene Sauerstoff verbraucht ist. Eine archaische, unbewusste Rücksichtnahme auf die lebende Flamme, vermutlich geboren aus Respekt vor diesem heiligen Element.
Bei den kleinen Lichtern verweilend, senken wir unseren Blick auf den Tapis und entdecken neben Sonne und Mond, die Knotenschnur. Sollte auch diese ein Tabu sein?
Im Volksglauben findet sich seit vielen Jahrhunderten der Knoten als Symbol für Hindernisse,
besonders der Empfängnis und Geburt. Denken wir beispielsweise an den Mythos der eifersüchtigen Juno, welche die Geburt des Herkules durch knotenartiges Verschränken ihrer Finger zu verhindern suchte.
Das Tabu des Knotenschnürens bei der Niederkunft gebärender Frauen war ein Phänomen rund um den Erdball. So war man vielerorts der Meinung, dass Knoten in den Kleidern einer Gebärenden die Entbindung erschweren könnten. Auch Angehörigen wurde aufgetragen, keine Knoten zu binden, ja nicht einmal mit überschlagenen Beinen zu sitzen, damit die Geburt durch das Zubinden der werdenden Mutter nicht gefährdet werde.
Ebenso soll bei den Römern das Übereinanderschlagen, oder Kreuzen der Beine während
geschäftlicher Zusammenkünfte oder bei Kriegsgerichtsverhandlungen tabuisiert gewesen sein. In orthodoxen Kirchen ist die Sitzposition mit überschlagenen Beinen bis heute verpönt, da diese keine Ehrfurcht zeigt. Und wie sitzen wir im Tempel? Versuchen wir nicht auch der inneren Haltung und der Würde des Geschehens entsprechend eine korrekter Sitzposition einzunehmen ohne die Beine zu überkreuzen?
Die bindende Kraft, die man in das Knüpfen von Knoten legte, gewann früh die Bedeutung einer
magischen Handlung. So wurde der Knoten zum magischen Knoten, der dazu benutzt werden konnte, einen Flüchtenden aufzuhalten, Hexenmeister und Wölfe abzuwehren und darüber hinaus sogar den Tod zu bannen.
Spannend ist es auch einen Blick auf die Architektur zu werfen. Dort treffen wir die Knoten in den sg. Knotensäulen an, eine besondere Form der Romanik. Sie haben ein auffallendes Mittelstück dessen Schaft zu einem Knoten verschlungen zu sein scheint. Der Volksmund nannte diese Ornamente auch „Teufelsknoten“, die oftmals im Gefolge phantasievoller Untiere erscheinen. Als Beispiel die Bestiensäule der Krypta des Freisinger Doms aus dem 12. Jhdt. oder die beiden geknoteten Steinsäulen Jakin und Boas des Würzburger Domes. (Abb. S 112) Von der Amtskirche offenbar als satanische Relikte nicht besonders geschätzt, verloren diese vor einigen Jahren ihren prominenten Platz an der Westvorhalle und fristen nun im tiefgelegenen Areal des Domschatzes ein bescheidenes Dasein.

Apropos Kirche:
Symbole wie das zunächst im Christentum hochgeschätzte, später als satanisch verworfene
Pentagramm wurde zum tabuisierten Symbol. Die ersten kirchlichen Verdächtigungen des
Pentagramms als die Saat des Bösen stehen im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Ketzerei des späten Mittelalters. Allen Bemühungen zum Trotz, ließ sich die Faszination der fünffachen Orientierung bei weitem nicht aus der kirchlichen Symbolik verdrängen. Als weiser Leitstern dient er in der FM als Symbol der menschlichen Vernunft, des erwachten Geistes.


Unser kleiner Rundgang durch den Tempel neigt sich langsam dem Ende zu und gibt uns Anlass
innezuhalten um Vergangenes und Zukünftiges zu bedenken.
Widmen wir uns als letzte Station dem Tod als Tabu, den Symbolen der Vergänglichkeit – dem Schädel – sind wir ja schon als Neophyten bei unserer Aufnahme in der dunklen Kammer begegnet – als Aufforderung, uns der Begrenztheit des Lebens bewusst zu sein und den Blick stets auf die wesentlichen Dinge des Lebens zu lenken.
Um das tabuisierte Symbol des Todes aufzuspüren möchte ich mit einem heute noch gebräuchlichen Sprachtabu beginnen, das sich aus irrealer Angst, bizarrem Geister- und Aberglauben zusammensetzt.

Heute noch lebt das lateinische Zitat, welches beim Tod eines zu Lebzeiten umstrittenen Menschen mahnend zitiert wird: „De mortuis nil nisi bene“ – „Über die Toten nicht, wenn nicht wohlwollend zu sprechen“, als eine Warnung, Kritik und Streit gegenüber dem nun wehrlosen Verstorbenen ruhen zu lassen. Sein Ursprung wurzelt in der magischen Vorstellung, der
Tote könnte aus Rache zurückkehren, um Lebende aus dieser Welt zu reißen.
Tatsächlich sprach man noch Mitte des 19. Jhdt. von Wiedergängern oder Nachzehrern als
personifizierte Untote, die die Lebenden in unheilvoller Absicht heimsuchten. Freud ortete die Angst, Verstorbene könnten sich nach dem Tode zu Dämonen verwandeln als Projektion unbewusster Feindseligkeit, einer Art Ambivalenz aus Demut und Furcht. /Freud nannte das Tabu treffend: „Heilige Scheu“- auch hier zeigt sich der Doppelcharakter des Tabus.


Der Geist der Vergangenheit hat uns auf unserem kleinen Rundgang durch den Tempel begleitet, wir haben einige archaische Tabus, Relikte längst vergangener Zeiten angetroffen, die in der FM andersartig ausgelegt werden, zuweilen auch um Gut und Böse umgekehrt zu sehen, und ins Leben einzubeziehen. Vieles, was von der vorherrschenden Kultur ausgesperrt worden ist und doch zum Menschsein gehört, etwas das wiederentdeckt werden möchte und uns vielleicht zu einem tieferen Verständnis der symbolischen Welt führt.


Quelle: Erna-Maria Trubel: Verbotene Worte Archaische Tabus als Symbole in der Freimaurerei,
Salier Verlag, Leipzig, 2022 ISBN 978-3-96285-047-0