Passage sous le bandeau


BS Sr:. Sonja vom 04.12.2023
L:. Georges Martin/Droit Humain

Vorweg möchte ich betonen, dass ich in meinem Baustück gendere, jedoch möge man mir verzeihen, wenn ich die eine oder andere Stelle übersehen habe…

Die Passage sous le bandeau oder – wie es in unserem Ritual des 1° heißt – die „Befragung unter der Augenbinde“ – wird in allen französischen und vermutlich auch den meisten anderen Logen weltweit praktiziert, im Droit Humain Österreich hingegen bleibt es den einzelnen Logen überlassen, ob sie die Suchenden dieser Befragung unterziehen oder nicht. Mein Baustück beruht einerseits auf Erfahrungsberichten von Brüdern aus verschiedenen Logen in Frankreich, andererseits auf zwei Passagen, an denen ich als Gast teilnehmen durfte.

Die Passage ist ein Abschnitt im Aufnahmeverfahren. Für unsere neuen Lehrlinge möchte ich es an dieser Stelle kurz wiederholen: Wie wir alle wissen, gibt es dabei mehrere Abschnitte: wird jemand der Loge als Kandidat*in für unseren Bund vorgeschlagen, so trifft sich der MvSt mit ihm/ihr für ein erstes Kennenlernen. Bei der nächsten 1°- Arbeit im Tempel berichtet er den Geschwistern von diesem Treffen , verliest den Lebenslauf und die Antworten auf dem Fragebogen, dann wird abgestimmt, ob das Aufnahmeverfahren weiter verfolgt werden soll oder nicht. Bei einer positiven Abstimmung tritt der MvSt die an 3 MM heran und bittet sie, bis zu einem bestimmten Zeitpunkt die Interviews durchzuführen. Diese werden dann im Tempel verlesen und es kommt zur ersten Ballotage.

Verläuft diese positiv, so wird das Ansuchen mit jenen der Suchenden für andere Logen auf der Homepage des Droit Humain Österreich veröffentlicht, so dass auch die Mitglieder anderer Logen Einspruch erheben können, falls sie der Meinung sind, der/die Kandidat*in gehöre nicht aufgenommen.

In unserer Loge findet keine Passage statt, daher erfolgt als nächstes die Einweihung . In anderen Logen wird noch vor der Einweihung die Befragung unter der Augenbinde durchgeführt.

Ziel dieser Befragung ist es herauszufinden, mit welchen Absichten der Kandidat an die Loge klopft und ob es sein/ihr aufrichtiger Wunsch ist, Freimaurer*in zu werden. Dabei wird der Authentizität sehr große Bedeutung zugemessen. Man will erkunden, ob der/die Profane sich gut in die Loge eingliedern und ob der/die Suchende wirklich als solche bezeichnet werden kann. Es geht also in keiner Weise um hochwissenschaftliche, komplexe Antworten, sondern um solche, die von die Aufrichtigkeit des Kandidaten/der Kandidatin zeugen.

Laut unserem Ritual soll sie dazu dienen – ich zitiere -, “dass jede Sr:. und jeder Br:. eine gerechte, überlegte und unvoreingenommene Stimme darüber abgeben kann, ob die/der Profane in die FM aufgenommen werden kann“ oder eben nicht.

Dabei ist die Rolle der Augenbinde nicht dieselbe wie während der Aufnahme: bei der Einweihung ist sie ein Symbol für die Finsternis, die den/die Suchende umgibt, bevor ihm/ihr das Licht gegeben wird. Gleichzeitig aber wird der Kandidat eines seiner Sinne, nämlich des Sehens beraubt, was wiederum die anderen Sinne schärft. Ich kann mich noch nach über 20 Jahren an einige Details bei meiner Aufnahme erinnern, als wäre es gestern gewesen: zum Beispiel das Gefühl des Bückens beim Betreten des Tempels, den festen Griff meiner Bürgin oder die Stimme meines damaligen MvSts.

Im Anschluss an die Befragung unter der Augenbinde erfolgt die zweite Ballotage, welche ebenfalls positiv ausgehen muss, damit der/die Suchende aufgenommen werden kann. Die Passage ist damit die letzte Hürde im Procedere der Aufnahme.

Im DH stellt der Redn:. die Fragen, in anderen Obödienzen kommen alle MM.: zu Wort. Die meisten L:. verfügen über eine Art Fragenkatalog, manche jedoch stellen die Fragen spontan,

Ich war an zwei Passagen einer anderen Obödienz anwesend. Im Droit Humain fällt die Durchführung der Passage unter die Logenautonomie. So wird zum Beispiel in der L:. Aurora die Befragung unter der Augenbinde praktiziert und SSr:. Karo hat uns vor ein paar Jahren über ihre Eindrücke berichtet. Obwohl sie selbst sich für die Passage aussprach, ist mir eine ihrer Aussagen in besonderer Erinnerung geblieben: „Nach der Passage hat man mich vor die Eingangstür geführt. Ich habe mich in meinem ganzen Leben nie so allein gefühlt wie damals im Stiegenhaus der Bräunerstraße.“

Alle drei Ereignisse – die beiden Passagen denen ich beiwohnen durfte sowie der Eindruck unserer Sr:. Karo hatten eine nachhaltige Wirkung auf mich.

Die Passage ist der einzige Moment, in dem ein Profaner den Tempel während einer freimaurerischen Arbeit betreten darf. Die Augenbinde hat dabei mehrere Funktionen:

Der/die Profane gibt sich in die Hand einer Gruppe von Menschen, die er/sie bis auf einen einzigen – nämlich den Bürgen – nicht kennt, die er nicht sieht und von denen er nicht weiß, was sie gerade tun. Er/sie weiß auch nicht, wie viele Personen im Raum sind: zehn, zwanzig oder gar 50 oder 100? Dies alles ist ein großer Vertrauensvorschuss von seiner/ihrer Seite.

Ohne Augenlicht schärfen sich die anderen Sinne. Unser Geist ist offen und gleichzeitig konzentriert.

Die Außenwelt wird anders wahrgenommen: durch Stimmen, Worte, und Geräusche, die man nicht deuten kann.

Außerdem soll der/die Kandidat*in nicht durch Gegenstände oder Bilder im Tempel abgelenkt werden, sondern sich voll und ganz auf die Befragung konzentrieren.

Durch die verbundenen Augen wird aber auch die Deckung der anwesenden Geschwister gewahrt, denn es steht ja noch nicht fest, ob man überhaupt aufgenommen wird.

Das Ziel dieser Befragung ist es also zu erkennen, ob der/die Profane für diesen neuen Lebensabschnitt bereit ist, ob genug Vertrauen vorhanden ist, sich auf eine Gruppe einzulassen, die aus fremden Menschen besteht, die man nicht einmal sehen kann; ob der/die Profane so weit ist, scheinbar willkürliche Fragen über sich ergehen zu lassen und dem Pfad der Wahrheit zu folgen.

Bei den Fragen selbst gibt es kein richtig oder falsch, sondern es geht darum, dass der/die Befragte aufrichtig antwortet und authentisch bleibt. Es geht darum, den/die Suchende in einer außergewöhnlichen Situation besser kennen zu lernen. Dabei ist es nicht so wichtig, was jemand denkt, sondern wonach er/sie auf der Suche ist. Weltanschauliche, politische oder gar religiöse Vorstelllungen haben bei der Befragung nichts verloren. Hingegen geht es um die Bereitschaft, sich persönlich weiterzuentwickeln, um zum Wohle der Menschheit etwas beizutragen. Da man sich der Anspannung des/der Kandidat*in bewusst ist werden eher einfache Fragen gestellt, auf die man sich einfache Antworten und keine wissenschaftlichen Abhandlungen erwartet. Fragen, die zu sehr ins Private gehen sind nicht erlaubt. Ebenso wenig darf es Diskussionen zu den einzelnen Antworten geben. Auch Fragen, die schon während der Interviews gestellt wurden, sollen nicht im Rahmen der Passage wiederholt werden.

Auf youtube findet man eine vollständige Passage, allerdings in französischer Sprache1. Der Suchende wird vom Zeremonienmeister und einem Geleiter an der Hand in den Tempel geführt und setzt sich auf einen für ihn vorbereiteten Stuhl zwischen die Säulen. Der MvSt versichert ihm, dass seine Antworten den Raum nicht verlassen werden. Der Kandidat beginnt mit einer kurzen persönliche Vorstellung: verheiratet oder geschieden, wie viele Kinder, auch die derzeitige berufliche Tätigkeit wird genannt. Erst dann beginnt die eigentliche Befragung, wobei verschiedene Geschwister je eine Frage stellen – vorbereitet oder spontan, auch das ist von Loge zu Loge verschieden. Der Ton beim Stellen der Fragen soll neutral, aber doch irgendwie distanziert bleiben, da es sich ja um eine Art Prüfung handelt. Nach jeder Antwort bedankt sich der/die Fragende mit einem kurzen „Merci, Monsieur“ um zu verdeutlichen, dass nun die nächste Frage folgt.

Die Arbeit im Tempel weicht leicht von den herkömmlichen Arbeiten ab, da der MvSt das Wort direkt an jene SSr und BBr gibt, welche die Befragung durchführen. Ausnahmsweise wird nicht über den ersten oder zweiten Aufseher um die Erteilung des Wortes angesucht, sondern es wird vom MvSt durch Handzeichen vergeben. Durch diese Abänderung des Rituals herrscht eine andere, etwas spontanere Atmosphäre. Die Fragen werden von verschiedenen Personen und aus verschiedenen Richtungen gestellt, was die Befragung lebhafter gestaltet, als wenn nur eine Person zu dem Befragten spricht.

Nun möchte ich ein paar konkrete Fragen, die ich aus französischen Berichten oder Videos entnommen habe, zitieren:

  • Ist Ihre Gattin mit Ihrem Ansuchen einverstanden?
  • Was sind Ihre wichtigsten Werte?
  • Was bedeutet für sie Toleranz?
  • Nennen Sie uns Ihre größte Stärke?
  • Was ist Ihre größte Schwäche?
  • Auf welchen persönlichen Erfolg sind Sie in Ihrem Leben am meisten stolz?
  • Was glauben/hoffen Sie in der Freimaurerei zu finden?
  • Vorhin haben Sie gesagt, dass Sie die Freundschaft suchen. Was bedeutet für Sie Freundschaft?
  • Was glauben Sie der Freimaurerei geben zu können?
  • Denken Sie, dass Sie ein freier Mensch sind?
  • Können Sie uns ein Buch, einen Film oder ein Kunstwerk nennen, das Sie nachhaltig beeinflusst hat?

In manchen Logen ist es üblich, den/die Kandidat*in vor der Passage in die Schwarze Kammer zu geleiten – ohne dem bei einer Einweihung vorhandenen Gegenstände – und ihm schriftlich drei Fragen zur Beantwortung zu geben, und zwar zu seiner Heimat, seiner Familie und seiner Person. Die Antworten werden dann sofort im Tempel vorgelesen, während der/die Profane noch in der Schwarzen Kammer verweilt und sich geistig auf die Passage vorbereitet.

Unser Ritual sieht folgenden Ablauf vor:

Zuerst wartet der/die Profane vor der Eingangstür im 2. Stock der Bräunerstraße. Von innen klopft der GE an die Eingangstür, um dem Geleiter zu signalisieren, dem Profanen die Augenbinde anzulegen. Geführt vom GE begleitet der Geleiter den Profanen zur Tempelpforte. Dort klopft der GE einmal an und es beginnt der Dialog, der jenem der Aufnahme sehr ähnlich ist (S 37). Der/die Suchende muss versprechen, über das Erlebte zu schweigen, auch wenn die Aufnahme nicht befürwortet wird. Anschließend stellt der Redner die vorbereiteten Fragen. Am Ende bedankt sich der MvSt beim Suchenden und dieser wird vom Begleiter und unter der Führung des GE hinaus geleitet. Vor der Eingangstür wird dem Profanen vom Geleiter die Binde abgenommen und er wird verabschiedet. Erst wenn der Geleiter und der GE wieder im Tempel sind wird vom MvSt ein Text über die Aufnahme in die FM verlesen, dann fragt er, ob jemand das Wort bezüglich des Antrags des Kandiaten wünscht und erst wenn die Kolonnen schweigen erfolgt die Ballottage.

Alsdann verliest der Redner den dieser zweiten Ballotage entsprechenden Artikel des Generalreglements und schlägt vor, abzustimmen. Der Schriftführer hält die Anzahl der stimmberechtigten fest und erst dann werden die schwarzen und weißen Kugeln vom GE an die anwesenden MM verteilt. Nach der Ballotage werden die Kugeln ausgezählt die Gegenprobe gemacht und das Resultat vom Redner bekannt gegeben. Der MvSt verständigt am nächsten Tag den Profanen über das Ergebnis der Abstimmung.

Aus den französischen Berichten geht hervor, dass es eine einmalige Erfahrung ist, dass die Befragten das während der Passage Erlebte durchaus positiv sehen – denn wann hat man schon die Gelegenheit, ganz mit sich selbst zu sein, sich einer Gruppe von Menschen anzuvertrauen, die man nicht kennt und über die man nichts weiß? In den verschiedenen Foren habe ich aber auch einige – wenn auch wenige – gefunden, die sich traumatisiert oder unter Druck gesetzt fühlten.

Selbstverständlich hängt es auch von der Stimmung innerhalb der Gruppe ab. In einer Loge, in der Harmonie herrscht und auf Augenhöhe kommuniziert wird, wird es kaum Probleme geben. In einer hierarchisch sehr strikt arbeitenden Loge hingegen könnte es sein, dass sich die Passage weniger als eine Befragung denn als ein Verhör anmutet, was jedoch im Widerspruch zur Idee steht.

In einem französischen Freimaurerforum habe ich folgenden Absatz gefunden:

Einen besonderen Punkt möchte ich hervorheben: Man glaubt oft, dass die Augenbinde dazu dient, den Suchenden in eine Position der Unterordnung oder sogar der Demütigung zu versetzen. Darum geht es sich überhaupt nicht. Die Augenbinde wurde von mir als ein Moment erlebt, wo ich im Angesicht mit mir selbst, meinen Widersprüchen und meinen eigenen Fragen war. Man findet sich mit verbundenen Augen wieder und es werden einem Fragen gestellt. Die Person, die diese oder jene Frage stellt, sieht man nicht, man kennt sie nicht einmal. Und dennoch, oder gerade deshalb, versucht man möglichst ehrlich zu antworten.

Passend zum heutigen Thema möchte ich die folgende Stelle aus dem Kleinen Prinzen zitieren:

  • »Lebe wohl«, sagte der Fuchs. »Hier ist mein Geheimnis. Es ist sehr einfach: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.«
  • »Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar«, wiederholte der kleine Prinz, um es sich einzuprägen.