Zwischen Ritterromantik und Freimaurerei

Die Wildensteiner Ritterschaft zur blauen Erde

Am 4. Oktober 1812 begaben sich auf der Burg Seebenstein, ca. 20 km. südwestlich von Wiener Neustadt, bemerkenswerte Dinge. Männer und Frauen gesetzteren Alters trafen sich zu einer Festlichkeit, die als „Wildensteiner Bankett“ in die Literatur eingegangen ist. Einige kurze Zitate aus einer zeitgenössischen Beschreibung vermitteln uns einen Einblick in das Geschehen:

Diesen höchst erfreulichen Tag kündigten der Donner der Pöllerschüsse mit aufgehender Sonne an. Nachdem bei einem altdeutschen Morgen-Imbiss unter dem Donner der Pöller und Schmettern der Trompeten und Pauken zu dreimalen auf die Gesundheit Seiner kaiserl. königl. Majestät die Pokale geleert wurden, sammelten sich gegen 9 Uhr die Ritter und Knappen, auch Frauen, in verschiedenen altdeutschen Kleidern und Rüstungen in dem untern dritten Vorhof der Veste.

Nach dem Umtrunk und in guter Stimmung begab sich die Gesellschaft in den inneren Bereich der Burg, besichtigte die Innenhöfe und historischen Räumlichkeiten und traf sich anschließend in der dreieckigen Kapelle zu einer Messe. Bevor das Festmahl beginnen konnte, wurden die Ehrengäste begrüßt:

Gerade vor dem Mittags-Imbiss ertönte die Trompete, und der Wachtweibel meldete dem Oberritter die Ankunft des hochedlen Burgherrn und Ritters Hanns auf Rauchenstein mit seiner edlen Burgfrau, und Hanns der Stixensteiner erscheinen in voller so selten als schönen Rüstung von Fuß bis Kopf, von Eisenblech versilbert, gepanzert und geharnischt mit Helm, Schild und Schwert, dann einer weiß und roth seidenen Binde, worüber sich Alles freudig wunderte.

Nun konnte das eigentliche Fest beginnen.

Die in Form eines Hufeisens aufgestellte Tafel war durchaus nach altem Gebrauch mit blauen Tischtüchern gedeckt und die hohen Gäste, wie auch die Ritter und Frauen, mit japanischem Geschirr, altmodischen Silberlöffeln, Messern und Gabeln, diese letzteren meistens von Hirschgeweihen selten oder künstlich geschnitzt, bedient.

Während dem Auf- und Abtragen der Speisen wurden von den ritterlichen Minnesängern unserer Gesellschaft bald deutsche, bald italienische Solo und Quadros, auch mitunter Wildensteiner Lieder abgesungen, wobei die seltene vollkommene Stille bei einer so zahlreichen Tafel gewiss der größte Beweis des ganzen Vergnügens war.

Die Feierlichkeit dauerte den ganzen Tag über, bis zu später Stunde eine weitere Stärkung gereicht wurde:

Der Nacht-Imbiß, der mit gleicher Formalität, Einigkeit und Freude unter abwechselnder Musik, Gesang und Scherz genossen wurde, dauerte bis Mitternacht, da sich dann die Frauen und Dirnen in ihre Schlafkammern, die Männer aber in ihre gemeinschaftliche Casematten zur Ruhe begaben.

Ein ausgelassenes Fest mit Kostümierung auf einer historischen Burg ist an und für sich nichts Besonderes. Derartiges gab es in früherer Zeit ebenso wie heute. Versehen mit dem Terminus Reenactment erheben derzeit manche dieser Veranstaltungen sogar einen wissenschaftlichen Anspruch.

Kann es sein, dass hinter dem Treffen der Ritter und ihrer Gefolgschaft mehr steckte als die Lust an gemeinsamen Gelagen in einer romantischen Burg? Um das herauszufinden wollen wir zunächst einen Blick auf die Vita des Hauptakteurs werfen. Der Gründer der „Wildensteiner Ritterschaft zur Blauen Erde“, so der klingende Name der Vereinigung, war Anton David Steiger, der 1755 in Pötsching geboren wurde. Steiger war zunächst als Verwalter in mehreren Gutsbetrieben tätig und erhielt schließlich mit Unterstützung von Fürst Joseph Franz Palffy die Möglichkeit, an der Bergbauakademie in Schemitz zu studieren. Diese, in der heutigen Slowakei liegende Akademie war eine noch sehr junge Institution, die hochqualifizierte Fachkräfte für den Bergbau ausbildete. In Schemitz wurde Steiger mit Ignaz von Born bekannt, der ebenfalls Mineraloge und einer der einflussreichsten Wiener Freimaurer war. Von Born führte Steiger in die Freimaurerei ein und machte ihn nach dessen Rückkehr nach Wien mit Kaiser Joseph II. bekannt. Steiger erhielt in der Folge mehrere Anstellungen im südlichen Niederösterreich und ab 1792 war er Ökonomieverwalter und Zahlmeister – heute würde man sagen kaufmännischer Geschäftsführer – der Maria Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt. Diese Tätigkeit ließ ihm genügend Zeit, nebenher seinen durchaus erfolgreichen privaten Geschäften und Interessen nachzugehen.

Obwohl Steiger in beruflicher Hinsicht technisch und naturwissenschaftlich orientiert war, dürfte er ein sehr romantisches Naturell besessen haben. Er pachtete nämlich ab 1788 die Burg Seebenstein, die damals seit einem halben Jahrhundert unbewohnt und baufällig war. Gemeinsam mit dem Besitzer, Joseph Graf von Pergen, der früher ebenfalls dem Bund angehört hatte, finanzierte er die Renovierung ganz im Stil einer mittelalterlichen Burg. Da zu einer Burg auch Ritter gehören, gründete Steiger 1790 die Wildensteiner Ritterschaft zur blauen Erde. Wie kam es zu diesem Namen? Im 12. Jahrhundert gehörte die Burg dem Geschlecht der Wildensteiner. Durch den Bezug auf die frühen Vorbesitzer versuchte Steiger, die Wurzeln seiner Ritterschaft im Mittelalter zu verankern.

Komplexer ist die Erklärung des Begriffs der „blauen Erde“, der mehrere Deutungen zulässt. Blau ist die Farbe der Romantik, die „blaue Blume“ ist ein immer wiederkehrender literarischer Topos. Blau ist aber auch das sehr seltene Mineral Lazulit (auch Lapis Lazuli genannt), das bis dahin nur in Asien gewonnen wurde. Steiger hatte erstmals ein kleines Vorkommen in der Steiermark entdeckt. Blau ist jedoch auch – und jetzt sind wir wieder beim eigentlichen Thema angelangt – die Farbe der Johannismaurerei.

Wie bekannt, war in Österreich die Maurerei ab 1785 stark eingeschränkt und unter Kaiser Franz II. sogar streng verboten worden. Anders war die Situation in Deutschland, wo sie nicht nur erlaubt war, sondern von manchen Landesfürsten aktiv gefördert wurde. Da eine gedruckte Liste der Namen von 255 „Rittern“ vorliegt, lässt sich nachweisen, dass viele Wildensteiner zuvor Wiener Logen angehört hatten, oder in Logen außerhalb der Monarchie arbeiteten.

Heute mag uns die Kostümierung als Ritter als ein rückwärtsgewandtes Freizeitvergnügen erscheinen. Betrachtet man jedoch die Außenwirkung dieser Gemeinschaft, so gerät man ins Staunen. Ehrenritter waren unter anderen Herzog Karl August von Weimar, Prinz Wilhelm, der spätere König von Preußen und Leopold von Sachsen Coburg-Gotha, der spätere König von Belgien. Auch der österreichische Hochadel war prominent vertreten: ab 1813 hatte Erzherzog Johann, der Bruder von Kaiser Franz I., unter dem Decknamen „Hanns von Oesterreich, der Thernberger“ den Rang eines Hoch- und Großmeisters inne. Möglicherweise war die Ritterschaft für den Erzherzog ein Surrogat für die Freimaurerei, die ihm als Mitglied des Kaiserhauses verwehrt war. Mehrere Hinweise, die mit der Angelobung des Erzherzogs als deutscher Reichsverweser in Verbindung stehen, deuten darauf hin. So besuchte er 1848 in Frankfurt die Loge „Zur Einigkeit“ und soll dort gesagt haben: „Ich bin kein Maurer, denn wir dürfen nicht. Doch mein Großvater und meine Lehrer sind Freimaurer gewesen“. Der erwähnte Großvater war Franz Stephan von Lothringen. Sehr vertraut klingt für uns auch die Angelobungsformel, die der Erzherzog vor der deutschen Nationalversammlung sprach:

Ich gelobe in Ehrfurcht vor dem Allerhöchsten mein Amt auszuüben, wobei Weisheit mein Leisten, Stärke meine Devise und Schönheit und Harmonie aller Menschen mein Ziel ist.

Nach diesen Zeilen, die wie eine Paraphrase unseres Ritualtextes klingen, stellt sich nun die Frage, wie nahe zumindest ein Teil der Ritterschaft der Freimaurerei stand. Wie schon erwähnt, gehörten mehrere Mitglieder früher den inzwischen verbotenen Wiener Logen an. Die Nähe zur Freimaurerei wird besonders deutlich, wenn man die 1806 formulierten Statuten der Ritterschaft liest. Der Text erinnert über weite Strecken an unsere Alten Pflichten oder an ein Hausgesetz, bei dem der Begriff „Bruder“ durch „Ritter“ ersetzt wurde. Hier einige Beispiele. Bereits im §1 wird Johannes der Täufer als Schutzpatron der Ritter genannt. Bei der Versammlung haben der Oberritter und der Marschall einen Hammer zur Seite. Bei den Zusammenkünften durfte nicht über Religion oder die Landesregierung debattiert werden. Ein Knappe musste vor der Aufnahme von mehreren Rittern geprüft werden. Vor der Aufnahme wurden ihm die Augen mit einem blauen Tuch verbunden. Danach wurde der Kandidat in die Gerichtsstube der Burg geführt, wo die Aufnahmezeremonie stattfand. Nach mehreren prüfenden Fragen und einem Rundgang, bei dem er von jedem Ritter einen leichten Schlag auf die Schulter erhielt, sprach der Marschall: „Man lasse den angehenden Knappen niederknien auf sein linkes Knie und Licht werden.“ Abgesehen von diesen offensichtlichen Parallelen gab es auch in der Organisationsstruktur und bei gewissen Symbolen, wie dem Dreieck mit eingeschriebenem Auge, Anklänge an die Maurerei.

Nach außen hin agierten die Wildensteiner Ritter offen und transparent. Ein Fest mit zahlreichen Gästen, Böllerschüssen und schmetternden Trompeten wäre ohnehin kaum verborgen geblieben. Was möglicherweise im inneren Zirkel geschah entzieht sich unserer Kenntnis. Es gibt Hinweise, dass manche der Ritter mit den Jacobinern sympathisierten. So findet sich etwa ein verborgener Hinweis im Titel des oben genannten Buchs mit der Beschreibung des Ritterfests. Es ist datiert mit dem „4. Weinmonats Tag 1812“. Der Weinmonat, französisch Vendémiaire, entspricht dem Oktober im französischen Revolutionskalender. Besonders pikant ist, dass bei diesem Fest der Namenstag von Kaiser Franz I. gefeiert wurde.

Apropos Kaiser Franz: zunächst war der Kaiser den Wildensteinern durchaus wohl gesonnen. 1811 beehrte er die Ritterschaft sogar mit einem Besuch auf der Burg Seebenstein. Aus Gründen, die wir heute nicht mehr nachvollziehen können, wandelte sich seine Einstellung und 1823 folgte das Aus. Er ordnete dem Regierungspräsidenten Augustin Reichmann an, ein entsprechendes Schreiben an Anton Steiger zu richten. Dieses soll hier zitiert werden, um zu zeigen, zu welch blumigen Sprachellipsen die Spitze der Verwaltung in der österreichischen Monarchie fähig war:

Ich wende mich mit dieser Bemerkung an Sie, Herr Zahlmeister, als den Vorsteher der Gesellschaft, indem ich nicht zweifle, daß sie und die sämmtlichen Gesellschaftsglieder hierin einen Beweis meines Vertrauens und meiner Achtung, zugleich aber auch einen hinlänglichen Beweggrund finden werden, die Gesellschaft unverzüglich gänzlich aufzulösen und ihre Versammlungen für immer einzustellen.

Ich berge Ihnen auch nicht, daß die Gesellschaft hierdurch einem ausdrücklichen Allerhöchsten Befehl entgegen kommen werde und ich ersuche Sie, mir ehestens anzuzeigen, wie und in welcher Art und Weise sie demselben nachgekommen ist, indem ich von höherem Ort angewiesen bin, hierüber zu berichten.

Zwar hatte Anton Steiger unter dem Decknamen „Hainz am Stein der Wilde“ die Ritterschaft gegründet, er war aber nicht deren Vorsteher. Der eigentliche Adressat wäre deren Hoch- und Großmeister Erzherzog Johann gewesen. Aber vermutlich war es dem Kaiser doch zu peinlich, seinem Bruder die Liquidierung einer Gesellschaft anzuordnen, die unter dessen Leitung stand.

Selbst die Nachgeschichte der Ritterschaft liefert uns ein Indiz für die Nähe zur Maurerei. Nach der Auflösung wurden die Akten der Wildensteiner, eine Siegelsammlung und mehrere Erinnerungsstücke an die Grenzloge „Verschwiegenheit“ in Bratislava übergeben und dort in einem Freimaurermuseum ausgestellt.

Die Beschäftigung mit der Wildensteiner Ritterschaft hat bei mir eine Reihe von Fragen ausgelöst, die ich gerne gemeinsam mit euch diskutieren möchte. Handelte sich bei den Rittern auf der Burg Seebenstein wirklich nur um eine Handvoll retro-orientierter Sonderlinge, die sich mit ihren Rüstungen und Schwertern auf eine Zeitreise in die Vergangenheit begaben? Waren die Ess- und Trinkgelage mit Trompeten, Trommeln und kostümierten Minnesängern wirklich der Endzweck oder etwa nur eine Fassade, hinter der sich mehr verbarg? Handelte es sich etwa um einen Kern von eingefleischten Freimaurern, die eine ahnungslose „Ritterschaft“ als Tarnung um sich scharte?

Diese Fragen sind legitim, auch wenn die vorhandenen Quellen nichts zu ihrer Beantwortung beitragen. Wir können das Fragespiel allerdings auch weiterspinnen und überlegen, was von unserer Tätigkeit als Freimaurer in der Zukunft sichtbar bleiben wird. Nehmen wir einmal an, dass unsere abgelegten Schriftstücke und Akten die Zeitläufe überstehen und dass sich Historiker in 200 Jahren aus irgendwelchen Gründen für die Geschichte der Loge Logos interessieren. Wird er oder sie den Eindruck gewinnen, dass wir erfolgreich am Gebäude der Menschlichkeit gearbeitet haben und dass wir die Flamme, die unsere masonischen Vorfahren vor mehr als 300 Jahren entzündet haben, auch im 21. Jahrhundert zum Leuchten gebracht haben? Oder wird die Analyse unserer fiktiven Forscher*in etwa so klingen:

Auf Grund der vorliegenden Dokumente mussten wir den Eindruck gewinnen, dass die Loge nach Überwindung der Pandemie in den frühen 2020er Jahren eine krisenhafte Situation durchlief. Die schwindende Mitgliederzahl (siehe Tabelle 1) sowie die starke Fluktuation in den Führungspositionen deuten darauf hin. Im Aktenbestand fanden sich zahlreiche Schriftstücke, wie Protokolle oder Entwürfe für Organisationsstrukturen, was den Schluss nahelegt, dass die Geschwister der Loge das Geheimnis der Freimaurerei vor allem in der Arbeit an strukturellen Fragen zu finden glaubten.